Dessau-Roßlau Dessau-Roßlau: Bis alle Häuser Russlands fliegen lernen
dessau/MZ. - Als El Lissitzky den "Wolkenbügel" entwarf, Architektur quasi im Himmel verankerte, zeichnete er auch die "Tribüne für Lenin", ein Stahlskelett, einen gläsernen Fahrstuhl, zwei Plattformen. Mit der Revolution sollte auch die Schwerkraft überwunden werden. Dabei galt Lissitzky die bildende Kunst als "Umsteigestation zur Architektur".
Im Meisterhaus Kandinsky / Klee wirkt die Ausstellung "Russische Avantgarde" wie ein Besuch der Ostverwandtschaft. Der Anhaltische Kunstverein gewann die Galerie Michael Nolte aus Münster, die offenbar einiges auf Lager hat. Zur Eröffnung der Ausstellung am Sonntag lobte Wolfgang Savelsberg vom Kunstverein die hohe Qualität, die Ursprünglichkeit, die Vielfalt, er bedauerte, dass der Kunstverein keine museumspädagogische Arbeit leisten könne. Und wahrlich ließen sich anhand der bekannten und weniger bekannten Malerpioniere Entwicklung und Pluralität der Klassischen Moderne aufblättern. Im Meisterhaus sprach die Kunsthistorikerin Dagmar Thesing, die auch den Katalogtext "Der Vergessenheit entrissen" verfasst hat. Ein zweiter Text von Patricia Railing und Erhard Jägers beleuchtet "Pigmente und Farbpaletten", zieht vor allem Parallelen zu den französischen Vorbildern und wirkt zudem wie ein Beruhigungsversuch des Kunsthandels angesichts dessen, dass gerade Maler der russischen Moderne gerne gefälscht werden. Der Grund: Verfemt, verboten und nicht nur ins Depot versenkt, ist die Herkunft mancher Bilder abenteuerlich.
Hier setzt Thesing ein und zwar mit George Costakis. Dessen Tochter Aliki Kostaki schreibt, dass ihr Vater Meisterwerke in Schränken, unter Betten, in alten Truhen gefunden habe. Er "riss sie von Nägeln an Scheunenwänden herunter, wo sie unverglaste Fenster verschlossen… Ein Kunstwerk war statt eines Wachstuchs für einen Küchentisch benutzt worden, auf dem die Familie die Mahlzeiten einnahm". Costakis, Mitarbeiter der kanadischen Botschaft in Moskau, begann 1946 seine Sammelleidenschaft auf bekannte und unbekannte Werke der russischen Moderne zu konzentrieren.
Als er 1977 die Sowjetunion verließ, musste er einen großen Teil seiner Sammlung der Staatlichen Tretjakow-Galerie schenken. 1990 starb Costakis. Der griechische Staat kaufte seine Sammlung an, heute zu sehen im Staatlichen Museum für Zeitgenössische Kunst Thessaloniki. Thesing blickt auch auf andere Sammler, etwa auf Igor Sawitzki, der fernab der Machtzentrale in Nukus, heute Usbekistan, sammelte, oder auf die Odyssee der Bilder von Kasimir Malewitsch nach der "Ersten russischen Kunstausstellung" in Berlin.
Malewitsch schuf mit dem "Schwarzen Quadrat" eine Ikone der Moderne. Die Kunstgeschichte machte ihn zum Schöpfer des Suprematismus, was schlicht heißt, dass Form und Farbe die Suprematie, das Übergewicht gegenüber den Erscheinungen der sichtbaren Welt haben. Er war die Galionsfigur. Ihm voraus ging der Blick nach Frankreich. "Ein Spaziergang im Park" von Natalia Gontscharowa erinnert an die Anfänge der Umbrüche. Die "Landschaft mit Kirche" von Aristarch Lentulow lässt die Farben ungewöhnlich leuchten, orientiert sich dennoch am Kubismus, der Gegenstände und Raum rhythmisch aufblätterte. Voller Rhythmus ist auch "Paris am 14. Juni": Trikoloren, Bäume, Häuser von Alexandra Exter. Hinzu kommt mit dem Futurismus die dritte Dimension, mithin die für die Moderne so wichtige Bewegung in das Bild. So sieht man Herr und Dame reisen: "Komposition mit zwei Figuren" von Ljubow Popowa. Nebenan spielt der synthetische "Musiker" von Iwan Puni auf, sachliche Züge hier, wie collagiert da. Blätter von Alexander Rodtschenko, Iwan Kljun und anderen sind versammelt.
Lissitzkys "Tribüne" gehört zur Ausstellung und zwei weitere Arbeiten, die er Proun nannte. "Pro unovis" steht für eine Erneuerung in der Kunst. Bewegter, drängender, weniger klassisch als der vermeintliche bürgerliche Zwillingsbruder, als "De Stijl" im Westen, wollte Lissitzky in seinen Architekturphantasien neue Räume gewinnen, mit der Sowjetmacht in neue Zeiten schweben. Bevor die Tribüne mit dem Redner fallen konnte, fiel das politische Klima.