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50 Jahre Ärztin in Kochstedt 50 Jahre Ärztin in Kochstedt: Dessaus dienstälteste Allgemeinmedizinerin wird 80

Von Annette Gens 24.10.2019, 09:21
Erika Mück ist Ärztin mit Leidenschaft. 50 Jahre praktiziert sie in Kochstedt. Am Donnerstag wird sie 80.
Erika Mück ist Ärztin mit Leidenschaft. 50 Jahre praktiziert sie in Kochstedt. Am Donnerstag wird sie 80. Thomas Ruttke

Kochstedt - Vergangenen Samstag hat sie ihren Koffer gepackt, weil wenige Tage später das Ereignis ansteht, mit dem sich Erika Mück noch wenig anfreunden kann und deshalb lieber verreisen will. Doch dieses „Ereignis“ ist festgeschrieben: Erika Mück, Dessaus dienstälteste praktizierende Allgemeinmedizinerin, feiert am Donnerstag ihren 80. Geburtstag. Und sie denkt: Wie schrecklich!

Das neue Lebensjahrzehnt, das beginnt, sieht man ihr überhaupt nicht an. Die Frau kennt man nur aus ihrer Praxis in Kochstedt im weißen Kittel oder von Hausbesuchen, wenn es wirklich nottut. Die Arbeit hat sie jung gehalten. Doch Mück gibt auch zu, die ersten Zipperlein haben sich eingestellt.

50 Jahre sorgte und sorgt Erika Mück sich um die Gesundheit der Kochstedter. Sie war in dieser Zeit viele Jahre „nebenher“ auch als Betriebsärztin oder im Kindergarten unterwegs, fuhr an den Wochenenden sehr viele Einsätze mit der Schnellen Medizinischen Hilfe. Und sie ist vermutlich eine von wenigen Ärzten im Stadtgebiet, die der Computertechnik noch heute nicht traut. „Meine Patientenkartei ist handgeschrieben“, klingt ihre Stimme bei diesem Satz sehr konsequent. Denn sie empfindet es als unpersönlich, wenn der Arzt „in der Sprechstunde am Laptop klimpert“, kaum aber auf den Menschen schaut, der Hilfe sucht.

„Ich hatte es anfangs in Kochstedt nicht leicht“, erinnert sich Erika Mück

1970 war Erika Mück als 30-Jährige in die damalige Poliklinik nach Kochstedt gekommen. Und wie immer, wenn sich in einem Dorf ein neuer Pastor oder Arzt ansagt, wurde die „ Neue“ neugierig beäugt. „Ich hatte es anfangs in Kochstedt nicht leicht“, erinnert sie sich. Vor allem Kochstedter Bauern hätten wohl viel lieber einen Doktor gehabt, der sich nicht nur in der Humanmedizin auskennt, sondern auch mal nach der Gesundheit von Kühen und Pferden schaut. Das aber konnte Mück nicht. Vor dieser Art Patienten hatte sie ein Leben lang riesigen Respekt.

Die Bauern meinten: „Was will denn eine Frau auf dem Lande? Und in die Kneipe geht sie auch nicht!“, erinnert sich Kochstedts „Doktorin“. Bruder Zufall brachte ihr zum Glück noch im ersten Jahr im Ort Anerkennung ein: Das Pferd eines herzkranken Bauern lag darnieder. Offensichtlich sollte ihm das letzte Stündlein schlagen. Da griff der Bauer in seiner Not zu den Herztropfen, die Mück ihm höchstpersönlich verordnet hatte. Die Medizin zeigte Wirkung. Das Pferd stand auf. Die Nachricht verbreitete sich schnell in Kochstedt.

Rückblickend hat Erika Mück ihre Arbeit und auch das Leben vor dem Berufsleben ziemlich zielstrebig angepackt. Sie stammt aus der schlesisch-mährischen Region. In Troppau (heute Opava) geboren, saß sie als Kind nach dem Zweiten Weltkrieg im ersten Transport mit Deutschen, die aus Tschechien ausgewiesen wurden.

Bis zum Physikum studierte Erika Mück in Bukarest

Die Familie kam zunächst bei Verwandten in Zerbst unter. 1946 erhielt der an Bechterew erkrankte Vater Arbeit in der Roßlauer Schiffswerft. Die Familie zog nach Roßlau, wo Erika Mück ihr Abitur am Goethegymnasium ablegte und unbedingt Medizin studieren wollte. Die Tochter eines Angestellten musste dafür Umwege in Kauf nehmen, Arbeiterkinder wurden bevorzugt.

Ihre Chance sah sie über den zweiten Bildungsweg. Sie wurde in Piesteritz Chemielaborantin und zum Studium delegiert. Dafür ging sie sogar nach Rumänien. Bis zum Physikum studierte sie in Bukarest. „Wir haben dort ordentlich gepaukt, denn wir wollten uns nicht blamieren“, sagt sie über sich und ihre deutschen Mitstudenten.

1965 folgte das Staatsexamen in Leipzig, ein Jahr später die Promotion und zwischendurch die Famulatur im Altener Krankenhaus. Ihre erste Poliklinik-Praxis bezog sie 1969 in der August-Bebel-Straße unter heute kaum vorstellbaren Verhältnissen. Um den maroden Tisch zu kaschieren, wurde ein rotes Tuch darüber gespannt, schmunzelt sie über den Pragmatismus, der sie prägte, aus allem das Beste zu machen. Zum Telefonieren wurde - in Ermangelung eines Telefons - das nächste Geschäft aufgesucht. 1970 ging es nach Kochstedt. Erst 1991 siedelte sie sich Privat dort endgültig an. In dieser Zeit stirbt die Poliklinik. Die damals 50-Jährige gründete eine eigene Arztpraxis, Notdienste und Fortbildungen haben weiterhin einen hohen Stellenwert.

Dass sich heute nur wenige Mediziner für die Allgemeinmedizin entscheiden, kann sie nicht nachvollziehen

Dass sich heute nur wenige Mediziner für die Allgemeinmedizin entscheiden, kann sie nicht nachvollziehen. „Die Allgemeinmedizin war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt sie rückblickend. Für ihre Patienten hat sie sich immer viel Zeit genommen.

Die „Doktorin“ vom Dorf wohnt und lebt heute in einem anderem Kochstedt. Der Ort hat durch Erweiterung um Waldsiedlung und Hirtenhau eher städtischen Charakter, Bauern gibt es kaum noch. Mücks Pragmatismus ist aber geblieben. Zum Jahresende wird sie ihre Praxis schließen, „weil der Mietvertrag abläuft“.

Und erst dann hat das meiste Mobiliar in ihrer Praxis ausgedient: Da gibt es noch einen alten, inzwischen wackligen Sanitätsschrank aus den 70ern. Und ihr Schreibtisch, auf dem Stethoskop und Blutdruckmessgerät für die Sprechstunde bereit liegen, stammt noch aus DDR-Zeiten. An dem saß sie schon, als sie noch in einer Gefügelfarm Sprechstunden durchgeführt hatte. Lange ist das her. „Doch es gab keinen Grund, ihn wegzuwerfen“, erzählt sie lachend. (mz)

Erika Mück wird ihre Praxis bis zum 23. Dezember 2019 weiterführen und verabschiedet sich dann in den Ruhestand. Zum 1. Januar wird sich in Kochstedt auf dem Heideplatz eine Medizinerin ansiedeln. Mück hofft auf Übernahme ihrer Patienten.

Laut Kassenärztlicher Vereinigung könnten sich in Sachsen-Anhalt 155 Hausärzte neu niederlassen, so viele freie Stellen gab es im August. Zukünftig müssen zusätzlich noch die altersbedingten Praxis-abgaben kompensiert werden. Werden diese hinzugerechnet, dürften bis zum Jahr 2032 noch 260 Hausärzte zusätzlich fehlen.