Zeugnis einer großen Liebe
Bitterfeld/MZ. - Der Schriftsteller Klaus Seehafer, Wahlbitterfelder, kennt eine solche Geschichte. Es ist die seinige und hat zu tun mit seiner großen Liebe zu Kurt Tucholsky. Die ihn über Jahrzehnte umtrieb, bis er nun Zeugnis davon ablegen konnte: "Von Rheinsberg bis Gripsholm" heißt ein soeben im Berliner Aufbau Verlag erschienenes Taschenbuch mit den besten Erzählungen Tucholskys. Der Herausgeber: Klaus Seehafer. Er schrieb auch das umfangreiche und sehr lesbare Nachwort.
"Schon als junger Mensch hat mir mächtig imponiert, was da einer jenseits aller in der Schule gerade gelernten Dudenregeln schreiben konnte ... und ich erlag seiner Sprache restlos", heißt es dort. "Ich habe Tucholsky in jedem Aufsatz imitiert", erzählt Seehafer lächelnd in seinem Bitterfelder Arbeitszimmer. Und auch von jenem verständnisvollen Lehrer, der den Jungen nicht schalt, sondern nur feststellte: "Wenn man so imitiert, dann muss man den Autor gelesen haben. Und das ist mir recht."
Doch liegen zwischen jener jugendlichen Faszination und der heutigen Herausgabe der Erzählungen Jahrzehnte. Welche Kraft hat da so lange gedrängt, sich neben der eigenen Schriftstellerei so ganz und gar in die Mühsal einer Sammlung hineinzubegeben?
Zum einen, sagt Seehafer, sei der Zeitpunkt ein günstiger gewesen. "Tucholsky ist seit 70 Jahren tot, das Copyright erloschen. Jetzt kann jeder Verlag nachdrucken." Doch das andere ist ihm noch viel wichtiger: "Kein Mensch nimmt ihn als Erzähler ernst." Und genau diesen will Seehafer nun dem Leser neu erschließen. Befindet sich doch in diesem Buch "fast alles, was der Autor im eigentlichen Sinne erzählt hat." Und wenn Seehafer "unglaubliche Entdeckungen" verspricht bei der Lektüre, dann wohl auch deshalb, weil dabei so viele Facetten von Tucholsky sichtbar werden.
Die komischen, die satirischen, aber auch die traurigen, wehmütigen. Neben "Rheinsberg" und "Gripsholm" gibt es die herrlichen "Lottchen"-Geschichten und die vom spießigen "Herrn Wendriner", aber eben auch jene Texte, die weniger bekannt sein dürften. So zum Beispiel die anrührende Anti-Kriegsgeschichte "Jemand besucht etwas mit seinem Kind" oder die nachdenklichen Vorher- und Nachher-Geschichten "Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln."
Doch noch etwas hat Seehafer im Blick: den "einmaligen Umgang mit der Sprache." Denn: "Es gibt alles über Tucholsky, aber keine Untersuchung seiner Sprache." Und auch die ist es, die der Leser nun wieder- oder überhaupt entdecken kann. Die Sprache eines Mannes, der nicht so schreibt, wie der Druck es vorsieht. Der seine Verlage inständig bat, keine Korrekturen ohne sein Einverständnis vorzunehmen, da die angeblichen "Fehler" schriftstellerische Absicht waren. "Tucholsky", sagt Seehofer, "war fasziniert vom gesprochenen Wort. Einen Tonfall, einen falschen Tonfall, hatte er noch nach Jahren im Ohr. Er hatte das absolute Gehör für Viertelschwingungen." Tucholsky setzte den Dialekt um ins geschriebene Wort, "das macht seine Einmaligkeit aus."
Das Schöne an diesem Büchlein sind nicht nur die in dieser Komprimiertheit zusammengestellten Geschichten des 1935 gestorbenen Dichters. Seehafer wird mit seiner so wahrhaftigen Liebe zu Tucholsky auch die künftigen Leser begeistern. Jene, die Tucholsky vor vielen Jahren mal gelesen haben und denen er dann langsam entglitt bis hin zum Vergessen. Die werden eine Wiederbegegnung erleben voller Staunen und Respekt über und vor den heute noch so aktuellen Texten. Und jene, die Tucholsky vielleicht nur als Namen kennen aus irgendeiner Ecke der Literaturgeschichte, die dürfen dann wirklich Entdeckerfreunden genießen. Dabei ist Seehofers engagiertes Nachwort eine hilfreiche Lektüre und empfiehlt sich praktisch als "Vorwort".
Kurt Tucholsky: "Von Rheinsberg bis Gripsholm - die besten Erzählungen". Aufbau Taschenbuch Verlag, 7,95 Euro.