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Zeitgeschichte in Niemegk Zeitgeschichte in Niemegk: Das ungewöhnliche "Elkani"

Von Ulf Rostalsky 14.09.2015, 12:07
Auch Willi Rost, Horst Truckenbrodt und Klaus Matthei (v. l.) haben in Erinnerungen geschwelgt.
Auch Willi Rost, Horst Truckenbrodt und Klaus Matthei (v. l.) haben in Erinnerungen geschwelgt. André Kehrer Lizenz

Jessnitz - Sie wohnen in Bitterfeld, Jeßnitz oder Raguhn. Haben in Thüringen, Hessen oder Nordrhein-Westfalen ihr Zuhause. Und doch sind sie alle Niemegker. Ex-Bewohner eines Ortes, den es seit 1978 nicht mehr gibt und dessen letzte Gebäude samt Jahrhunderte alter Kirche 1980 von Baggern platt gemacht worden waren.

„Zwei Jahre Kohle für das Kraftwerk Karl Liebknecht hat die Überbaggerung gebracht“, ist Willi Rost sicher. Für zwei Jahre Strom wurden gut 1 000 Jahre Geschichte geopfert. „Freiwillig ist niemand gegangen. Da ging es schon derb zur Sache“, sagt der Mann, der in Niemegk in der Mühle der Familie arbeitete, in der Feuerwehr mitmischte und seit 35 Jahren im thüringischen Camburg wohnt. „Es war ein schönes Dorf.“

Den Satz gab es beim dritten Bürgertreffen der Niemegker in Jeßnitz häufiger zu hören. Heimat verbindet. „Ich bin in Niemegk geboren“, sagt Klaus Matthei, der als einer der letzten die Koffer packte und nach Bitterfeld zog. „Das muss im Mai 1979 gewesen sein. Da waren schon fast alle Häuser weg. Aber meine Eltern hatten noch den Laden. Den mussten sie offenhalten.“ Auch in Abrisszeiten unmittelbar vor der Überbaggerung des Ortes sollte die Bevölkerung versorgt sein. So meinten es die staatlichen Stellen.

Die Erinnerung an das Ende ist die traurige Seite der Treffen, die sich immer noch großer Beliebtheit erfreuen. Erst lud der in Jeßnitz heimisch gewordene Herbert Rost – ein Namensvetter das letzten Niemegker Müllers – zum Kameradschaftstreffen der Feuerwehr des Ortes vor den Toren Bitterfelds. Dann wurde das Niemegktreffen ins Leben gerufen. „Es ist eine Gelegenheit, zusammenzukommen, zu reden, sich zu erinnern“, meint Ingrid Kux, die das jüngste Treffen mit auf die Beine stellte.

Ort zum Wohlfühlen

Niemegk, ein Ort zum Wohlfühlen. Immer wieder wird geschwärmt: von der Gemeinschaft, dem Goitzschewald vor der Haustür. Die Ex-Niemegker haben ihre Heimat vor mehr als 37 Jahren verlassen müssen. Sorgen zeitlicher Abstand und Sehnsucht nach dem Ort der Kindheit und Jugend für ein verklärtes Bild? Das verneinen die Dorfbewohner. Gleichwohl: Ingrid Kux erzählt, dass sie sich gefreut habe auf die moderne Wohnung mit Zentralheizung und Warmwasser. „Wir waren damals junge Leute. Das ist doch vielen so gegangen.“ Die Wohnung konnte allerdings kein Ausgleich für den Heimatort sein. „Wir hatten vier Bäckereien, zwei Gaststätten, die Läden, einen Sportplatz“, zählt Klaus Matthei auf. „Wir hatten auch das Elkani“, blickt Willi Rost zurück. In der Gaststätte, deren ungewöhnlicher Name auf den Gründer Louis (El) Klein (Ka) in Niemegk (Ni) zurückgeht, hätten die Feuerwehrleute nach Wettbewerben die Urkunde an die Wand gehängt. „Die erste Runde Bier ging auf den Wirt.“ Auch sportlich machte der Ort was her. In Niemegk waren die Deutschen Meister im Radball zu Hause. Hier wohnten auch DDR-Meister im Tischtennis. Es wurde Fußball gespielt, geturnt. „Es war einfach schön“, weiß auch Horst Truckenbrodt, dessen Eltern Ende der Vierziger eine Bäckerei übernommen hatten.

Der 81-jährige Bitterfelder schwärmt von der Natur rund um sein Niemegk und kommt dann zu einem doch versöhnlichen Schluss. „Es ist doch schön, dass jetzt der Goitzschesee ist, wo damals Niemegk war.“ An das Bild des Tagebaus anstelle seines einstigen Wohnortes hatte er sich nie gewöhnen wollen.