Wolfen Wolfen: Filmfabrik - das war weitaus mehr als Film und Faser
WOLFEN/MZ. - Besondere ingenieur-technische Leistungen, deren ausführliche Erforschung und Würdigung leider noch aussteht, erbrachten die Konstrukteure, Maschinenbauer und Handwerker. Bei der Gründung des Werkes gab es viele Maschinen und Anlagen, die für die Film- und Faserproduktion gebraucht wurden, noch nicht in der geplanten Größe und Qualität. Sie mussten selbst projektiert, konstruiert und in eigenen Werkstätten gebaut werden. Nach 1945 - Devisenmangel prägte die DDR-Wirtschaft - mussten die Maschinen samt und sonders selbst gebaut werden. Hinzu kam ein ständig steigender Instandhaltungsaufwand - vor allem Chemiefaseranlagen waren überaltert und verschlissen.
Zum Profil des Werkes gehörte auch die Produktion von Magnetband. Wolfener Wissenschaftler waren zusammen mit Wissenschaftlern der BASF Ludwigshafen an der Entwicklung des Magnetbandes beteiligt. Der Versuch, diese Produktion als alleiniger Hersteller in der I. G. nach Wolfen zu holen, scheiterte aber vorerst am Widertand der BASF. So kam diese Produktion - nach einer Kesselexplosion in Ludwigshafen - erst 1943 hierher.
1972, mit Bau und Inbetriebnahme der neuen Magnetbandfabrik verlagerte sich der Schwerpunkt der Magnetbandherstellung nach Dessau. In Wolfen blieb aber eine Produktion bis zum Ende des Werkes erhalten. Neben diesen Hauptprodukten gehörten aber auch viele weiterverarbeitete Produkte wie Kunstdärme (hier war das Wolfener Werk, alleiniger Hersteller in der DDR), Damenhygiene, Nährhefe, Schwämme, Angelschnüre und der Klebstoff "Duosan", um nur einige Produkte zu nennen, zur Palette. Sie alle wurden oft im Schichtbetrieb und unter nicht immer ganz leichten Arbeitsbedingungen hergestellt.
Damit alles funktionieren konnte, gehörten auch die Beschäftigten in den Energie-, Versorgungs- und Hilfsbetrieben dazu. Ohne die Eisenbahner, die Kraftwerker - immerhin arbeiteten drei Kraftwerke für die Strom- und Dampferzeugung des Werkes rund um die Uhr -, ohne die Kältemaschinisten und die Beschäftigten in den Wasseranlagen wäre eine Produktion in der Filmfabrik nicht möglich gewesen.
Zum reibungslosen Ablauf im Arbeitstag eines in der Filmfabrik Beschäftigten gehörten aber auch die Kindergärtnerinnen, die Frauen in den Küchen und Speisesälen, die Ärzte und Schwestern, die Mitarbeiter der Betriebswäscherei, der Spedition, des Berufsverkehrs und viele weitere Beschäftigte in den Neben- und Hilfsbetrieben, die immer einsatzbereiten Feuerwehrleute nicht zu vergessen. Insgesamt haben, geschätzt, rund 100 000 Menschen in den 85 Jahren des Bestehens des Werkes Lohn und Brot für sich und ihre Familien in der Filmfabrik erarbeitet. Wie groß die Leistung dieser Menschen war, zeigen die Produktionszahlen aus einem der letzten Jahre vor der Wende.
In dieser Zeit arbeiteten 14 500 Chemiearbeiter im Werk. Sie kamen aus über 200 Orten rund um Wolfen. Trotz vieler zum Teil bereits geschilderter Probleme stellten sie mit enormem Fleiß, Engagement und oft Improvisationsvermögen unter anderem 40 Millionen Quadratmeter Filmunterlage - das war ein Band um den Äquator, 20 Millionen Quadratmeter Film- und Fotomaterial in über 200 verschiedenen Sorten und rund 2 500 verschiedenen Konfektionierungen, zwei Millionen Quadratmeter magnetische Aufzeichnungsmaterialien. Aus dem Chemiefaserbereich kamen 50 000 Tonnen Sulfitzellstoff, 25 000 Tonnen Viskosefaser, 15 000 Tonnen Papierzellstoff, 5 000 Tonnen Futterhefe, 2 000 Tonnen Viskoseseide, 2 000 Tonnen Viskosedarm, 3 000 Tonnen PeCe-Fasern, Borsten und Draht, 7 500 Tonnen Glaubersalz aus der Rückgewinnung.
Mit dem Beschluss der Treuhand vom 20. Mai 1994, die Filmfabrik GmbH aufzulösen und die Liquidation einzuleiten, endete die Geschichte eines der größten und erfolgreichsten Film- und Faserwerke der Welt. Es kam zu Massenentlassungen mit weit reichenden Folgen für die Beschäftigten und ihre Familien, für die Stadt Wolfen und die Umgebung.
Der Rückbau des größten Teiles des mit mehreren hundert Gebäuden bebauten 165 Hektar umfassenden Fabrikgeländes folgte. Heute künden nur noch wenige Produktionsstätten, beispielsweise Maba Spezialmaschinen GmbH, Organica Feinchemie GmbH, FEW Chemicals GmbH, FilmoTec GmbH und die Orwo Net GmbH davon, dass auf dem fast leeren Gelände mal ein großes bedeutendes Werk stand. In der Mitte, heute freistehend, steht fast mahnend noch der alte Wasserturm der Filmfabrik.
Im nun restaurierten geschichtsträchtigen einstigen Forschungs- und Direktionsgebäude 041, nun Sitz der Stadtverwaltung Bitterfeld-Wolfen, wird mit dem wieder hergerichteten Hörsaal als Prof. Dr. Eggert-Saal dem Wirken des großen Wissenschaftlers gedacht.
Das Industrie- und Filmmuseum (Ifm) erforscht und dokumentiert die Geschichte des Werkes. Das Ifm befindet sich übrigens im ältesten noch erhaltenen Produktionsgebäude der Filmfabrik aus dem Jahre 1909, der Begießerei I, einem Dunkel- und Reinraumbetrieb. Die wechselvolle Geschichte der Filmfabrik Wolfen und ihre Aufarbeitung und Darstellung im Museum ehrte die Gesellschaft Deutscher Chemiker am 27. August 2010 mit der bisher selten verliehenen Auszeichnung "Historische Stätte der Chemie". Eine verdiente Ehrung für 85 Jahre herausragende Forschungsleistungen und fleißige, innovative Arbeit aller Beschäftigten der ehemaligen Filmfabrik Agfa, ab 1964 Orwo, Wolfen.