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Weihnachten mit einem Wildschwein

Von Katharina Düwel 23.12.2004, 16:08

Halle/MZ. - Jetzt fängt es auch noch an zu schneien, schöne Bescherung, denkt Klara, das Wildschwein. Ist überhaupt komisch heute Abend. Vorhin kam jemand um die Hausecke, ganz in Rot, mit weißem Bart und auf dem Rücken einen großen Sack. Die Fenster sind alle hell heute. Der kleine Junge hat aufgeschrien - er stand in der geöffneten Haustür - war es Angst oder Freude? Zuerst dachte ich, der Mann hätte in seinem Sack vielleicht ein paar Leckerbissen für mich. Elfe, das zahme Reh, hat Nüsse und Rosinen bekommen, aber ich wie immer nur alte Äpfel und die Reste vom Mittag. Also ein Tag wie jeder.

Aber jetzt tut sich was. Jemand randaliert an der Waldseite des Gatters, ich bin ganz aufgeregt, geht mich das was an? Es bricht durch, nein, nicht möglich, ein Keiler ... ein gescheckter. Der Hausherr schreit aus dem Fenster Alarm, gönnt mir kein bisschen Spaß. Jetzt ist die ganze Familie am Gatter, sie rufen und fuchteln mit den Armen. Wieso eigentlich, sollen sie unter sich bleiben mit dem Rotbemäntelten und sich nicht immer in meine Angelegenheiten mischen. War ja ganz nett, dass sie mir als Frischling die Flasche gegeben haben. Aber jetzt bin ich erwachsen.

Schade, der Gescheckte rennt weg. Ob er wiederkommt? Bin ganz schön einsam. Jetzt haben sie sich beruhigt und gehen ins Haus. Da ist er wieder, mein Besuch! Wenn das heute ein besonderer Tag sein soll, warum eigentlich nicht auch für mich. Endlich mal mit einem Keiler kuscheln, und noch dazu mit einem so schmucken, richtiger Festanzug, was der anhat. Verglichen mit meiner schwarzbraunen Robe. Aber vielleicht guckt der nicht so nach Kleidung. Immer nur fressen, schlafen und suhlen. Nicht mal ein bisschen schick machen. Das soll schon das ganze Leben sein? Aber heute! Ein schöner Abend, es schneit immer noch. Der tobt ziemlich herum, dieser Schecke, ich mag das.

Warum wissen sie eigentlich so wenig von mir, die Menschen? Sie könnten ja auch mal mit mir rüsseln. Manchmal kommt jemand ans Gatter und redet und redet. Mitunter hören sich Worte ganz schrecklich an, die sie sagen. Leitkultur, Hartz IV, Rentnerschwemme, Mitnahme-Mentalität und ähnliche. Worte wie Freunde, Glück oder Mitmensch klingen wenigstens gut. Aber wenn ich dann mal an ihren Beinen rüssele, schreien sie und beschimpfen mich und schütteln ihre Kleider. Dabei meine ich das gut. Ein Wildschwein ist ja kein Mensch! Bloß gut, dass endlich mal einer zu mir kommt, der mich versteht. Hoffentlich bleibt der Gescheckte ein bisschen. Hab mich schon viel zu sehr an diese Menschen gewöhnt. Sie sind meine Rotte, ich hab es bequem bei ihnen - aber es sind eben bloß Menschen.

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Katharina Düwel ist freiberufliche Autorin und Lektorin in Wittenberg