Unbekannte Verwandte? Unbekannte Verwandte?: Studiengruppe aus NRW stellt in Bitterfeld-Wolfen die Deutsche Einheit auf den Prüfstand

Wolfen - Sie wollen es genau wissen - die rund 30 Besucher aus Nordrhein-Westfalen. Wie ist das mit der Einheit von Ost und West, 30 Jahre danach? Was eint, was trennt uns? Und: Woran liegt das? Deshalb sind sie hergekommen, wollen sich auf einer viertägigen Studienfahrt ein Bild machen. Im Gepäck: Viele Fragen, große Neugier, aber vor allem offene Augen und Ohren.
Wichtigste Station neben Halle und den Weltkulturerbestätten ist Bitterfeld-Wolfen. Fast den ganzen Dienstag verbringen sie hier, klettern auf den Bitterfelder Bogen, fahren durch die Stadt mit dem gebürtigen Wolfener Kulturwissenschaftler Paul Werner Wagner als Reiseführer, um schließlich im Campus-Hörsaal beim Bürgerdialog zu diskutieren.
Vorher aber bittet Oberbürgermeister Armin Schenk (CDU) spontan auf den Rathausbalkon. Anschließend zeichnet er ein vielfarbiges Bild von der Stadt, ihren Erfolgen, ihren Problemen, ihrer Wandlung seit 1989. Der neue Imagefilm liefert die Bilder dazu. Die Gäste sind sichtlich beeindruckt.
Verständnis für die Ambivalenzen des DDR-Lebens
„Wir können nachvollziehen, was Sie hier erlebten und erleben“, sagt Dr. Frank Hoffmann von der Ruhr-Uni Bochum. Braunkohle, Chemie, Strukturwandel - es gibt viele Parallelen. „Aber wir hatten für diesen Transformationsprozess 60 Jahre Zeit“, betont Hoffmann. Deshalb sei der Besuch auch ein Zeichen „der Solidarität und des Respekts vor dem, was Sie hier Großartiges geleistet haben.“
Wagner, der Einheimischen nicht nur durch seine Erfolgsreihe „Filme wiederentdeckt“ ein Begriff ist, erzählt beispielhaft von seinem wechselvollen Leben: Rinderzüchter, misslungener Fluchtversuch, 17 Monate Haft im „Roten Ochsen“ Halle, Bewährung in der Filmfabrik, Fernstudium ... Das weckt Verständnis für die Ambivalenzen des DDR-Lebens. „Man darf die DDR nicht nur als SED-Diktatur und Unrechtsstaat sehen. Das war ein sehr differenziertes Land, kein Monolith“, betont Wagner.
Und wie wichtig der Stolz auf die Arbeit und die Treue zum Betrieb waren. Was um so gravierendere Folgen für das Selbstwertgefühl hatte, als nach 1989 viele Betriebe schlossen und abgerissen wurden. Wegzug zur Arbeit im Westen, Bevölkerungsschwund und die Folgen für Wohnraum und Stadtbild umriss WBG-Chef Jürgen Voigt.
Gespräche mit Zeitzeugen geben Verständnis für deren Leben
Doch welche Probleme haben die Besucher mit den Ostdeutschen? Was wollen sie besser verstehen? In der Gruppe reicht die Spannbreite vom Studenten bis zum Rentner, manche waren mehrfach hier, andere noch nie. Für Norbert Kohl beispielsweise war die DDR „ein großer weißer Fleck“. „Ich konnte lange nicht verstehen, wie man in einem Staat ohne Meinungsfreiheit und mit der Angst, durchleuchtet zu werden, leben kann“, so der 61-Jährige.
Die Gespräche mit Zeitzeugen gäben ihm ein Verständnis für deren Leben, machten ihren Drang nach Revolution verständlich. „Das weckt Hochachtung.“ Klaus Czwienk hatte Pegida und die Bilder von Leuten im Kopf, die behaupten, es gebe hier keine Pressefreiheit.
„Aber auf der Reise erlebe ich die Leute ganz anders. Und bin begeistert von den schönen Orten.“ Dagegen macht sich bei Klaus Raape vom Deutschland- und Europapolitischen Bildungswerk NRW Skepsis breit. Seit den 90er Jahren organisiert er solche deutsch-deutschen Reisen. Ende der 90er glaubte er, die Unterschiede würden bald verschwinden. „Jetzt frage ich mich, wo Pegida und 20 Prozent AfD herkommen. Da fehlt uns der Zugang. Denn gleichzeitig erlebe ich, wie toll es hier überall ist.“
„Ich bin hier nicht ,rüber’ gefahren, sondern voller Überzeugung hergekommen“
Doch einheitlich ist auch unter den Besuchern die Sicht nicht. „Ich bin hier nicht ,rüber’ gefahren, sondern voller Überzeugung hergekommen“, sagt der 24-jährige Flemming Anton aus Dortmund. „Für mich und viele meines Alters ist das längst ein Land.“ Er sei mehrfach hier gewesen, in Rostock oder Stralsund. „Aber jetzt komme ich das erste Mal bewusst mit Leuten ins Gespräch, versuche zu verstehen, was sie bewegt.“ Der Student glaubt, dass durch die Jugend die Gräben irrelevanter werden.
Nicht nur Städte, sondern ganze Landschaften hat sich Klaus-Dieter Rath auf rund 50 Touren durch Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt erradelt. „Und alles ist so picobello“, sagt der 67-Jährige. Vielleicht sollten auch mehr Ostdeutsche mit dem Rad durch die alten Länder fahren. Das könnte den Blick relativieren. „In Sachen Entvölkerung ist uns der Osten nur voraus.“ Dessen Erfahrungen könne man nutzen. Vom Osten lernen also? (mz)
Die Reise „30 Jahre Deutsche Einheit“ wird durch das Institut für Deutschlandforschung (IDF) der Ruhr-Universität Bochum und das Deutschland- und Europapolitische Bildungswerk NRW organisiert.
Ziel sind ein Austausch und ein Kennenlernen auf Augenhöhe.
Unter Leitung von Klaus Raape und Dr. Frank Hoffmann erlebten die Teilnehmer in Halle eine Lesung der Schriftstellerin Brigitte Burmeister, sprachen mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby, trafen bei einer Führung durch die Gedenkstätte „Roter Ochse“ einen ehemaligen politischen Häftling und besuchten die Frankeschen Stiftungen. Heute besuchen sie die Unesco Weltkulturerbestätten.
