Ringelnatz-Abend Ringelnatz-Abend: Seemannsgarn aus dem Wunderland
Wittenberg/MZ. - Am Dienstagabend erwacht der Vielschreiber, Vieltrinker und Vater des Kuddel Daddeldu, der eigentlich Hans Bötticher hieß und sich Joachim Ringelnatz nannte, in der Wittenberger Cranach-Stiftung zu neuem Leben. In Gestalt von Friedrich-Wilhelm Junge aus Dresden poltert er saufend, singend und deklamierend durch den Malsaal in der Schlossstraße, während sein Kompagnon Detlef Rothe mal am Schifferklavier, mal am Piano in die Tasten greift. Titel des Programms: Überall ist Wunderland. Für zwei Stunden auch in der Lutherstadt. Wer hätte das gedacht.
Im Wunderland von Ringelnatz (1883 bis 1934) geht es bisweilen leise-melancholisch, meistens aber ziemlich deftig zu. "In der Kneipe zum Südwester" werden Seemannsbräute besungen und Seemannsgarn gesponnen, das einem die Ohren übergehen. Da steht Junge, der manchmal aussieht wie Heinz Rühmann, als Kuddel Daddeldus alter Ego breitbeinig auf einem Tisch, auf der spiegelblanken Glatze eine Schiffermütze, in der Hand ne Buddel. Ist da wirklich Rotwein drin?, fragt mancher sich besorgt. Und Junge dröhnt: "Ersaufen ist auch ein Genuss. Da wirst du nie wieder nüchtern."
Seit 2001 tourt das Duo mit seiner Hommage an Ringelnatz (inszeniert von Steffen Moratz) durchs Land - oder tritt damit auf dem Theaterkahn auf, der in Dresden nach seiner Sanierung 1994 vor Anker ging. Und der, nebenbei bemerkt, ein Exempel dafür ist, dass ein Kleinkunstunternehmen auch ohne große Subventionen durch die raue See der Kulturlandschaft schippern kann. Doch vielleicht braucht es dafür einen so erfahrenen Skipper wie Junge, Jahrgang 1938, schon früher Mitglied renommierter Ensembles, heute künstlerischer Leiter des Dresdner Brettls. Auf seiner Homepage teilt er mit, dass vom Millionen schweren Umbaukredit die Hälfte abbezahlt sei. Und dass sich der Kahn zu 87 Prozent aus Eigenmitteln finanziere. Oh, Wunder.
Derweil hat die Stimmung im Wunderland des Poeten, mitten in Wittenberg, ihren Höhepunkt erreicht. Noch selten wurde im Malsaal so viel gelacht wie an diesem Abend. Das wiederum ist angesichts der hinreißenden Spielart Junges und Rothes kein Wunder. In atemberaubenden Tempo etwa erzählt Junge frei nach Ringelnatz das "Rotkäppchen" neu. Und sacht haucht er dieses Poem: "In Hamburg lebten zwei Ameisen / die wollten nach Australien reisen / bei Altona auf der Chaussee / da taten ihnen die Beine weh / und da verzichteten sie weise / dann auf den letzten Teil der Reise."
Ach Gott, ja, man könnte den beiden Sachsen glatt eine Ofenkachel überlassen.