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Erfindung aus Bitterfeld Erfindung aus Bitterfeld: Der Siegeszug des PVC

Von erhard Finger 29.01.2014, 10:04
Auch in der DDR entstanden Kunstfasern. Das Bild zeigt die Dederon-Heißverstreckung 1967.
Auch in der DDR entstanden Kunstfasern. Das Bild zeigt die Dederon-Heißverstreckung 1967. IFM Lizenz

Bitterfeld/MZ - In Bitterfeld stand die industrielle Wiege des PVC. Bereits 1913 wurde hier der Kunststoff erfunden. Zwischen 1936 und 1942 baute Griesheim Elektron die Bitterfelder PVC-Produktion zu einem der weltweit bedeutendsten Standorte aus.

Ein PVC-Erzeugnis, das Chemiegeschichte schreiben sollte, war die erste vollsynthetische Faser der Welt, die in Wolfen hergestellt wurde. Als „Spinnfaser aus Kohle und Kalk“ wurde sie von der I.G. Farbenindustrie präsentiert. Die Besucher der Leipziger Frühjahrsmesse 1939 staunten nicht schlecht: Die moderne Faser feierte ihre Markteinführung. Im selben Jahr erhielten die PeCe-Seide und PeCe-Faser auf einer Brüsseler Ausstellung einen Grand Prix.

Produkte für den Krieg

1942 wurde der PeCe-Betrieb der Filmfabrik Wolfen zum „kriegswichtigen Betrieb“ erklärt, der nun für die Wehrmacht produzierte. Vor allem für Fallschirme kam die PeCe-Seide zum Einsatz. Die Faser hatte den Vorzug, dass sie gegenüber Säure, Lauge und Salz beständig war. Deshalb fand sie vor allem bei der Herstellung von Filtertüchern, Säureschutzkleidung und Fischereinetzen Verwendung. Für textile Zwecke kam sie kaum in Frage: Wurden Damengarnituren versehentlich bei Temperaturen über 70 Grad gewaschen, dann konnte aus der Größe 46 schon mal eine Größe 40 werden.

Allerdings konnte die Faser Wärme ausgezeichnet zurückhalten. Deswegen wirkten daraus gefertigten Textilien rheumalindernd. Die von der DDR-Textilindustrie produzierte PeCe-Rheumawäsche sowie -decken waren unter dem Namen Vylan im Handel. Die Filmfabrik ist das einzig bekannte Unternehmen, das die PeCe-Faser und -Seide für textile Zwecke herstellte. Sie konnte das, denn die I.G. Farben hatte bereits 1939 eine geeignetere Faser entwickelt - die Polyamidfaser. Später wurden die aus Polyamidfasern gefertigten Textilien zu Ikonen der Nachkriegszeit. Der Nylon- und Perlonstrumpf ist das Symbol des Wirtschaftswunders.

Im zweiten Weltkrieg wurde die PeCe-Faser-Versuchsanlage in Wolfen zerstört. Die Produktion auf der Großanlage kam zum Erliegen. Auch in Bitterfeld musste die PVC-Produktion wegen Rohstoffmangels und der teilweisen Demontage eingestellt werden. Nach dem schwierigen Neuanfang Ende 1945 konnten ein Jahr später bereits wieder 412 Tonnen PeCe-Fasern sowie -Borsten und -Draht in der Filmfabrik hergestellt werden. Problematischer war die Wiederaufnahme der Produktion in Bitterfeld, die erst 1946 erfolgen konnte.

Mit dem im Jahr 1958 gestarteten „Chemieprogramm der DDR“ wurde im „Elektrochemischen Kombinat“ (EKB) der PVC-Standort ausgebaut. Fertigerzeugnisse wie Profile, Rohre, Kabel, Platten und Schuhe wurden unter dem Warenzeichen Vinidur bzw. Igelit hierzulande zum Begriff. Die technischen PeCe-Erzeugnisse der Filmfabrik, wie Borsten für Besen und Bürsten, Draht für Zäune und Seile, kamen ab 1959 unter dem Warenzeichen „Piviacid“ in den Handel.

Die verheerende Explosion im Bitterfelder PVC-Betrieb am 11. Juni 1968 im Werk Süd des EKB mit über 40 Todesopfern und 270 Verletzten war ein tiefer Einschnitt in die PVC-Produktion der DDR. Der Betrieb wurde nicht wieder aufgebaut und die Fertigung nach Buna, Gölzau und Eilenburg verlegt. In der Filmfabrik indes lief die Produktion der Kunstfaser weiter.

1990 ist endgültig Schluss

Am 22. Juni 1990 wurde der PeCe-Betrieb der Filmfabrik stillgelegt. Nach 55 Jahren endete eine Ära, die in Bitterfeld begann. Und mit der Löschung des Warenzeichens „Piviacid“ neun Jahre später verschwand auch ein Label, das Jahrzehnte für diese technischen PeCe-Fasern stand.

Doch nach wie vor spielen PVC-Erzeugnisse auf dem Weltmarkt mit einem Produktionsvolumen von etwa 50 Millionen Jahrestonnen vor allem wegen des günstigen Preises eine bedeutende Rolle. In der Produktionspalette der Kunststoffe stehen sie auf Platz 2. Am traditionsreichen Standort in Schkopau produziert heute die INEOS ChlorVinyls GmbH diesen vor 100 Jahren in Bitterfeld erstmals hergestellten Werkstoff.

Das Vinylchlorid, Ausgangsprodukt des Polyvinylchlorids (PVC), wird heute nicht mehr nach dem ursprünglich von Fritz Klatte ausgearbeiteten Verfahren aus Acetylen und Chlorwasserstoff (HCL) hergestellt, sondern aus Ethylen und Chlor. Die Ausgangsstoffe sind heute statt Kohle und Kalk Erdöl und Steinsalz. In Anlehnung an den Werbeslogan „Spinnfaser aus Kohle und Kalk“ könnte es heute heißen „PVC aus Öl und Salz“.

PVC-Fußbodenbelag wird im Betrieb in Zscherndorf hergestellt.
PVC-Fußbodenbelag wird im Betrieb in Zscherndorf hergestellt.
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