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Gedichtband aus Sandersdorf Das Klavier ist für die 90-jährige Ursula Frotscher ein Jungbrunnen

Das Alter kann Ursula Frotscher nicht von Musik und Lyrik fernhalten. Zu ihrem anstehenden 90. Geburtstag veröffentlicht sie erneut einen Gedichtband.

Aktualisiert: 16.4.2021, 08:37

Sandersdorf - Ursula Frotscher hat vorgesorgt. An mehreren Stellen in der Wohnung liegen Stift und Papier bereit, sogar im Badezimmer. Schließlich kann die Inspiration jederzeit zuschlagen und der Sandersdorferin einige flüchtige Gedichtzeilen einflüstern. „Das kommt aus einem raus, da kann man gar nichts dagegen machen“, sagt sie. Also wird auch im hohen Alter fleißig notiert - ob Tag, ob Nacht. Und die Lyrik bleibt bekanntlich nicht auf dem Schmierblatt. Frotscher hat bereits drei Gedichtbände veröffentlicht (die MZ berichtete). Zu ihrem anstehenden 90. Geburtstag legt sie nun einen weiteren vor. Unter dem Titel „Das Lied der Bäume“ sind über 40 meist kurze Reimtexte gesammelt.

„Das sind Gedichte, von denen ich das meiste selbst erlebt habe“

Zu erzählen weiß die Frau, die vielen vor Ort als langjährige Musiklehrerin bekannt ist, eine ganze Menge. Im jüngsten Band geht es um Natur und Jahreszeiten, Freundschaft und Liebe, um den Alltag und die Kunst. „Das sind Gedichte, von denen ich das meiste selbst erlebt habe“, sagt Frotscher. Bereits als Jugendliche im sächsischen Vogtland hat sie mit dem Schreiben begonnen. Tagebuch, Geschichten, erste Lyrik. Ein großer Motivationsschub folgte Jahrzehnte später, als die Sandersdorferin ein Köfferchen mit dem Nachlass des verstorbenen Vaters öffnete. „Da habe ich erst entdeckt, dass mein Vater auch Gedichte geschrieben hat“, sagt Frotscher. Offenbar hatte dieser bei seinen einsamen Waldspaziergängen unbemerkt Zeilen zu Papier gebracht - ein Grund, der Lyrik mehr Zeit zu widmen.

Denn schließlich wurde auch Frotschers andere große Leidenschaft einst von den Eltern geweckt. Obwohl jene kaum Geld hatten und der Vater sich mühevoll als Wäscherverkäufer verdingte, wurde genug für ein Klavier gespart. Beide Kinder bekamen Unterricht, hierfür mussten ebenfalls einige Reichsmark zusammengekratzt werden. „Das war ein Opfer für meine Eltern“, weiß Frotscher. Später ermöglichte die Familie ihr ein musikpädagogisches Studium in Halle.

In den 1960er-Jahren fand der Ehemann, ein Chemiker, dann einen Job vor Ort - es ging nach Sandersdorf. Über ein halbes Jahrhundert lang sollte Frotscher hier von nun an den musikalischen Nachwuchs heranziehen. Zunächst unterrichtete sie 30 Jahre lang in der August-Bebel-Oberschule, später an der Musikschule. Auch ein mehrfacher Hörsturz konnte die Sandersdorferin nur vorübergehend ausbremsen. Entgegen aller ärztlicher Erwartungen erholten sich ihre Ohren ein Stück weit. „Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt wieder hören kann“, sagt Frotscher. „Das gibt es eigentlich gar nicht, dass sich ein Hörnerv regeneriert.“ Mit bald 90 Jahren unterrichtet sie in ihrem Musikzimmer nun noch immer zwei Heranwachsende - wenngleich das wegen der Corona-Pandemie zuletzt nur per Videochat möglich war. Auch die eigenen Ambitionen hat Frotscher nie aufgegeben. Seit zehn Jahren reist sie für Klavier-Meisterkurse ins österreichische Zell an der Pram, spielt dort gemeinsam mit internationalen Gästen und lernt von renommierten Musikern. „Das war mein Jungbrunnen“, sagt die Sandersdorferin. Diesen Sommer soll es nach einjähriger Pause wieder gen Österreich gehen - dank Corona-Impfung. Dafür wird täglich zwei Stunden geübt. Mal Beethoven, mal Bach oder Chopin. Und ganz bewusst auch neue Stücke. „Ich bemühe mich, jetzt im Alter nicht nur das Alte zu wiederholen“.

Frotscher kann 127 Gedichte auswendig aufsagen und lernt ständig neue dazu

Doch nicht nur die Meisterkomponisten haben es Frotscher angetan. Auch die Werke von Hesse und Fontane, Rilke und Ringelnatz stehen in den schweren Buchwänden im Wohnzimmer der Sandersdorferin - und in ihrer „Bibliothek im Kopf“. Frotscher kann 127 Gedichte auswendig aufsagen und lernt ständig neue dazu. „Das ist ein gutes Gedächtnistraining“, sagt sie.

Und zur Not liegen Stift und Papier ja auch noch bereit. (mz/Tim Fuhse)