Bitterfeld Bitterfeld: Schlange stehen in klirrender Kälte
jessnitz/MZ. - Schlange stehen vor der Kirche: Das hat Seltenheitswert im Land. Noch dazu, wenn Dutzende Neugierige bei klirrender Kälte ausharren vor dem Gotteshaus. Genau genommen ist St. Norbert aber keine Kirche mehr. Von Ferne betrachtet fällt der sakrale Bau zweifellos ins Auge. Kirchenschiff und Turm dominieren die Jeßnitzer Ansicht, das Kreuz ist weithin erkennbar. Aber St. Norbert ist Geschichte.
Vergessen ist das Gotteshaus jedoch nicht. Immer wieder wird an die vergleichsweise kurze Zeit des Jeßnitzer Gebäudes als katholische Kirche erinnert. Doch der Blick zurück paart sich immer mehr mit dem nach vorn. Die Kirche trägt jetzt auch ganz offiziell ein neues Gewand, ist Kulturzentrum geworden.
Oder doch Veranstaltungszentrum? Vielleicht auch Begegnungsstätte? Michael Dubrau möchte alle Begriffe gelten lassen. Der Mann, der das Haus von der katholischen Kirche kaufte, hat ohnehin einen Trumpf in der Hinterhand, wenn es um den Namen für sein jüngstes bauliches Kind geht. Verspielt, vielleicht auch verrückt soll die neue Bezeichnung sein, auf die nicht nur die Jeßnitzer warten müssen.
"Alles ist noch nicht genehmigt", erklärt Dubrau den Start im Haus ohne Namen. War die Bezeichnung zu gewagt? Da bleibt der Hausherr still. Fest steht allerdings, dass der Titel ein echter Knaller und die Taufe auch ganz groß gefeiert werden soll. "Im Mai mit freiem Eintritt", ruft der umtriebige Unternehmer am Donnerstagabend den Besuchern des Premierenkonzerts in seinem Haus zu.
Peter Orloff und seine Schwarzmeerkosaken gaben sich die Ehre. Für Ortsbürgermeister Helmut Ernst ist das nicht nur musikalisch ein Genuss. Für ihn zählt schon die Tatsache, dass Jeßnitz überhaupt wieder über eine größere Veranstaltungsstätte verfügt. "Wir hatten doch nichts mehr. Das Volkshaus ist weg, die Schule samt Aula ist verkauft und steht leer." Der leidenschaftliche Fotograf und Heimatfreund hält seine Freude nicht zurück. Er ist froh, zückt den Fotoapparat und macht seine Bilder, während Orloff "den Worten Lieder folgen lassen" möchte.
Lieder, die die wunderbare Heimat beschreiben würden. Den Baikal, die Treue zum Zaren, das Gottvertrauen. Peter Orloff ist Chef im Ring, Ataman der singenden Kosaken. Geboren in Lemgo, aber mit russischen Wurzeln. Wie viele seiner Mitstreiter in schwarzen Uniformen voller Gefühl die russische Seele präsentieren, auch wenn sie musikalisch im bulgarischen Sofia das Laufen lernten.
Doch das ist nicht mehr als Randnotiz. "Ich bin wirklich aufgeregt. Das ist meine Musik", erzählt Hildegard Ramdohr, die mit Freundin Annelies Weinert nach Programmheften Ausschau hält. Da haben Orloff und Mitstreiter die erste Runde hinter sich und mit ihr voll überzeugt im Gotteshaus. Starke Stimmen vom tiefen Bass bis zum höchsten Tenor brauchen kein Mikrofon und keine große Technik. Das Bajan ersetzt ein ganzes Orchester. Ganz leise klingt es, wird lauter, wild. Applaus für Orloff und die Schwarzmeerkosaken ist garantiert.
Vergessen sind die Minuten in klirrender Kälte vor der Tür. "Da geht mein Herz auf. So schön ist das." Hildegard Ramdohr ist begeistert. Und mit Sicherheit nicht zum letzten Mal in der Kirche gewesen.