Bitterfeld Bitterfeld: Ein Leben für die Forschung und für die Familie
BITTERFELD/MZ. - Ein Jahr erst ist es her, dass der Bitterfelder Chemiker einen besonderen Ehrentag hatte: Im Dezember 2009 konnte Wolfgang Hermann Emil Spichale an der Leipziger Universität sein 50-jähriges Doktorjubiläum mit weiteren Absolventen seines Doktorandenjahrganges feiern. Dann holten den ehemaligen langjährigen Leiter der Forschungsabteilung Analytik des Chemiekombinates Bitterfeld die Krankheiten ein. Anfang Februar erlitt er den ersten Herzinfarkt, erholte sich aber und konnte seinen 80. Geburtstag am 22. März im Kreise der Familie feiern.
Doch nach einem zweiten Herzinfarkt Ende September musste er sich einer Bypass-Operation unterziehen. Aus der Narkose wachte er nicht wieder auf. Sein Leben endete am 8. Oktober 2010. Doch seine Verdienste um die Chemie in Bitterfeld und seine Liebe zur Region werden ihn unvergessen machen.
In Breslau aufgewachsen
Wolfgang Spichale war Bitterfelder mit Leib und Seele, er war der Stadt und der Region stets aufs Engste verbunden. Der in Breslau Geborene wuchs mit seinen drei Geschwistern in einem von bürgerlichen Tugenden geprägten, humanistischen Elternhaus auf. Er besuchte von 1936 bis 1940 die Volksschule und ab 1940 die Oberschule. Im Geschäftshaushalt seiner Familie lernte er beizeiten schwere Arbeit kennen. In den letzten Kriegswochen musste die Familie die geliebte Heimat verlassen, die Kriegswirren führten Wolfgang Spichale nach Görlitz, Meißen und Glauchau. Dabei wurden viele Verwandte und Freunde voneinander getrennt und durch die spätere Teilung Deutschlands zudem für Jahrzehnte auseinander gerissen.
Nach dem Abitur 1948 in Waldenburg führte ihn sein ausgeprägtes Interesse am Wissenschaftszweig Chemie in die Forschungslaboratorien der Wismut AG in Oberschlema und Grüna / Sachsen, wo er als Präparator und Forschungslaborant tätig war. Von 1950 bis 1955 widmete sich Wolfgang Spichale dem Studium der Chemie an der Universität Leipzig, wo er schon nebenbei als Hilfsassistent im Analysebereich tätig wurde. Als Hochschulabsolvent begann der Berufsweg im Hauptlabor des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld, dem späteren Chemiekombinat - eine gute Entscheidung. Sie bestimmte sein weiteres Leben als Chemiker mit Leib und Seele.
Wolfgang Spichale widmete sich zunächst elektrochemischen Fragestellungen und der Entwicklung eines Spezialschmierstoffes. Das Thema seiner 1958 verteidigten Promotionsarbeit zum doctor rerum naturalium lautete "Zur Aufklärung von Störungen der Chloralkalielektrolyse nach dem Quecksilberverfahren (Elektrolysengifte)".
Der stets höflich und korrekt auftretende Wolfgang Spichale avancierte 1959 zum stellvertretenden Leiter des Hauptlabors, 1962 zum Leiter des Forschungslabors für anorganische Chemie und 1963 zum Leiter der späteren Forschungsabteilung Analytik. Mit Verantwortung über 100 Mitarbeiter konnte bedeutenden Forschungsaufgaben nachgegangen werden. Spezielle Qualitätskontrolle für Produktionsbetriebe, begleitende Analytik von Forschungsvorhaben, Untersuchungen von Sicherheitsfaktoren sowie der Aufbau physikalischer Methoden der Analytik gehörten zum Tagesgeschäft.
Die Wissenschaft zählte
Er ermöglichte eine enge Kooperation mit Instituten von Hochschulen und der Akademie der Wissenschaften sowie mit Laboratorien auch anderer Betriebe der Chemischen Großindustrie. Er gehörte keiner Partei an, für ihn zählte ausschließlich die Wissenschaft. Heute noch ist Wolfgang Spichale vielen Weggefährten und Kollegen aus langjähriger Tätigkeit im CKB in bester Erinnerung. Als Mitglied der chemischen Gesellschaft der DDR brachte Wolfgang Spichale landesweit sein Wissen ein. Lernen und Weiterbildung waren ihm immer wichtig. Deshalb absolvierte er auch mit 44 Jahren ein vierjähriges Postgradual-Studium zum "Fachchemiker für Prozessanalytik".
Während seines Berufsalltags hatte Wolfgang Spichale einen ständigen Begleiter: sein treues Fahrrad. Jeden Tag, bei Wind und Wetter bewältigte er alle Wege damit: von einem Betriebsteil zum anderen, von Bitterfeld nach Wolfen, von der Wohnung zur Arbeit. Viele Kollegen schmunzelten darüber, aber seine Genügsamkeit und Bescheidenheit brachten ihm auch Respekt und Anerkennung ein.
Im EKB fanden auch anorganische Chemie und Liebe zueinander! Die tüchtige Laborantin Rita Koselack wurde vor mehr als 50 Jahren seine Frau. Nach der Hochzeit 1959 wurden 1960, 1964 und 1967 die Kinder Silke, Carsten-Erik und Klaus-Torsten geboren. Während er selbst an manchen Wochenenden im Büro und Labor anzutreffen war, hielt ihm seine Rita den Rücken frei und erzog die Kinder. Über allem stand jedoch sein tief ausgeprägter Familiensinn.
Mit seinen Kindern baute er Buden und Baumhäuser, Drachen und Kleckerburgen. Er trieb alle zum Waldlauf an und liebte gemeinsame Radtouren. Er pfiff Gassenhauer und sang Schnulzen und Opernarien. Er weckte in den Kindern die Freude an Büchern und Literatur, übermittelte ihnen Geschichtswissen und vermittelte viele handwerkliche Fertigkeiten. Auch die Werdegänge seiner geliebten sechs Enkelkinder betrachtete er mit Stolz und Aufmerksamkeit.
Im Sommer 1988 begann für Wolfgang Spichale eine schwere Zeit. Eine Rückenmarksentzündung, dessen Ursache nie geklärt werden konnte, fesselte ihn für immer an den Rollstuhl. Dennoch ging er seiner Tätigkeit an alter Wirkungsstätte im CKB bis zum wohlverdienten Ruhestand nach.
Im Rollstuhl Welt erkundet
Den Mauerfall 1989 hat Wolfgang Spichale sehr begrüßt. Endlich war es möglich, Verwandte und alte Freunde zu sprechen, zu besuchen und neue Länder zu erschließen. Auch im Rollstuhl hat er an Kreuzfahrten teilgenommen, Inseln des Mittelmeers, der Nord- und Ostsee besucht, alle Brücken Venedigs überwunden, die Dolomiten bewundert, Ötzi in Bozen besucht sowie Sand aus Tunesien, Marokko und von den ägyptischen Pyramiden in den Schuhen mitgebracht.
Wenn es stimmt, dass ein Mensch fühlt, dass die Kraft nicht mehr reicht, dann hatte es auch Wolfgang Spichale gespürt. Nur so kann man eine Erklärung dafür finden, dass er im Krankenbett seinen Kindern und Enkeln ein Vermächtnis aufgab: "Geht aufrichtig mit den Mitmenschen um, denn ihr wisst nicht, ob ihr die Hilfe des anderen braucht. Jede junge Generation ist dazu berufen, die Grenzen auszutesten. Das war früher so, das ist heute so und das wird in Zukunft so sein."