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Gründe für Schuldunfähigkeit Nach Freispruch eines Exhibitionisten in Bernburg: Richter erläutert Gründe für Schuldunfähigkeit eines Angeklagten

Von Wolfram Schlaikier 05.10.2018, 07:57
Christian Löffler, Richter am Landgericht Magdeburg
Christian Löffler, Richter am Landgericht Magdeburg Ralf Böhme

Bernburg - Der Freispruch eines Exhibitionisten wegen Schuldunfähigkeit hat viele Leser empört. Wer darf ein Gutachten in Auftrag geben? Welche Kriterien gelten? Ist Schuldunfähigkeit ein „Freifahrtschein“? Ein Richter antwortet auf wichtige Fragen.

Viele Leser haben sich über dieses Urteil vom 28. August am Amtsgericht Bernburg empört: Ein Mann entblößt sich im Juni 2017 vor Kindern auf einem Spielplatz – und wird freigesprochen, weil er laut einem psychiatrischen Gutachten schuldunfähig ist. MZ-Redakteur Wolfram Schlaikier sprach darüber mit Christian Löffler, Richter am Landgericht Magdeburg.

„Wenn es um Kinder geht, sollte es kein „schuldunfähig“ geben“, meint ein Leser. Eine Leserin sieht die Sache so: „Straftat begehen und dann zum Psychodoktor rennen. Besser umgeht man keine Strafe. Lächerliches Rechtssystem.“ Was entgegnen Sie solchen Kritikern?
Christian Löffler: Der Angeklagte ist nicht zum „Psychodoktor“ gerannt. Seine Begutachtung wurde durch das Gericht angeordnet. Spätestens seit dem Selbstmord von Robert Enke im Jahr 2009, der an Depressionen litt, ist einer breiten Öffentlichkeit bekannt, dass psychische Erkrankungen ernst zu nehmen sind. Der in Bernburg Angeklagte stand auch wegen seiner Erkrankung unter Betreuung.

Laut Paragraf 20 Strafgesetzbuch (StGB) handelt jemand ohne Schuld, der „bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“.

Wer kann beantragen, dass ein Angeklagter psychiatrisch untersucht wird - und wer darf solche Untersuchungen durchführen?
Löffler: Antragsberechtigt sind Staatsanwaltschaft, Gericht oder auch der Angeklagter bzw. sein Verteidiger. Teilweise werden die Gutachten auch schon im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben.

Als Gutachter kommen speziell ausgebildete Ärzte, in der Regel Psychiater, aber auch Rechtspsychologen in Betracht. Hier hat das Gutachten ein Fachpsychologe für Rechtspsychologie im Auftrag des Gerichts erstattet.

Bedeutet das Urteil, dass schuldunfähige Menschen einen Freibrief haben, Straftaten zu begehen?
Löffler: Ganz klar: Nein. Wer schuldunfähig ist und erhebliche Straftaten begeht, durch die die Opfer erheblich seelisch oder körperlich geschädigt werden, wird unbefristet in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus untergebracht (§63 StGB).

Voraussetzung ist aber, dass der Angeklagte für die Allgemeinheit gefährlich ist. Anhaltspunkte hierfür hat das Gericht in Übereinstimmung mit dem Gutachter nicht gefunden. Der Gutachter ist der Meinung, dass die Begegnung der Kinder mit dem Exhibitionisten reflektiert und bewältigt werden kann.

Welche Aspekte im Leben eines Angeklagten sind denn von Belang für ein Gutachten?
Löffler: Das Gericht prüft, beraten durch den Sachverständigen, umfangreich das bisherige Sozialleben des Angeklagten, die Vorstrafen, aber auch dessen Krankheitsgeschichte. So umfasst das schriftliche Gutachten allein 53 Seiten.

Wie viele Angeklagte in Strafprozessen in Sachsen-Anhalt werden wegen Schuldunfähigkeit nicht verurteilt? Und wie viele der Freigesprochenen werden nach dem Verfahren weiter psychiatrisch behandelt?
Löffler: Nach Angaben des Justizministeriums wurden 2017 insgesamt 20 Menschen wegen Schuldunfähigkeit (§20 StGB) nicht verurteilt. Gegen 17 dieser nicht Verurteilten wurde die Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus (§63 StGB) angeordnet, zwei Verurteilte wurden in einer Entziehungsanstalt untergebracht (§64 StGB).

Ob und in welchem Umfang die 17 nicht Verurteilten weiter psychiatrisch behandelt wurden, darüber gibt es keine Statistik. Dies dürfte aber der Regelfall sein.

In den Jahren 2016 und 2015 war die Zahl der wegen Schuldunfähigkeit nicht Verurteilten Angeklagten ähnlich: 2016 wurden 13 Angeklagte wegen Schuldunfähigkeit nicht verurteilt, im Jahr 2015 waren es 14 Angeklagte. (mz)