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Tante-Emma-Laden Heike und Roland Hertling führen seit 29 Jahren Tante-Emma-Laden in Preußlitz: Liebe und Verzweiflung im Einzelhandel

Von Torsten Adam 16.11.2019, 14:56
Heike Hertling packt in ihrem Tante-Emma-Laden in Preußlitz bei bernburg Brötchen der Bäckerei Siegmann in eine Tüte.
Heike Hertling packt in ihrem Tante-Emma-Laden in Preußlitz bei bernburg Brötchen der Bäckerei Siegmann in eine Tüte. Engelbert Pülicher

Preußlitz - Man muss sich schon ein wenig auskennen in Preußlitz, um das versteckt in einer Nebengasse an der Plömnitzer Straße liegende Dorflädchen von Heike und Roland Hertling zu finden. Das Ehepaar betreibt hier seit fast 30 Jahren einen Tante-Emma-Laden, so lange wie sonst niemand im Altkreis Bernburg.

1981 waren Hertlings aus Drosa nach Preußlitz gezogen, ins alte Lehmhaus der verstorbenen Tante. Gerade, als sie nach dem Abriss mit dem Neubau fertig waren, ereilte die Melkerin und den Schlosser das gleiche Schicksal wie Millionen anderer Ostdeutscher. Schnell war absehbar, dass ihre LPG keine Perspektive hat.

Die Eltern zweier Kinder nahmen ihre Zukunft selbst in die Hand. Mit Hilfe von Freunden und Bekannten bauten sie den Viehstall um. Dort, wo früher Bullen, Schweine, Enten, Hühner und Kaninchen untergebracht waren, verkauften sie ab 1. September 1990 Westprodukte.

Roland Hertling schaffte sie an jedem zweiten Tag aus dem Großmarkt in Braunschweig heran. Die Kunden trampelten bei der Rückkehr schon so ungeduldig mit den Füßen, dass er kaum dazu kam, den Transporter vollständig auszuladen.

Die Eltern zweier Kinder nahmen einen 10.000-Mark-Kredit auf - mit 9,6 Prozent Zinsen

„Um Fahrzeug, Regale und Ware zu kaufen, nahmen wir einen 10.000-Mark-Kredit auf“, sagt der 58-Jährige. An den für heutige Verhältnisse aberwitzigen Zinssatz von 9,6 Prozent kann sich seine ein Jahr jüngere Frau noch genau erinnern. Die ersten Jahre seien richtig gut gelaufen, mittlerweile habe sich der Umsatz auf deutlich niedrigem Niveau eingepegelt.

„Wir waren damals keineswegs die ersten, die in der Gegend diese Idee hatten“, erinnert sich Roland Hertling. Doch er und seine Frau sind diejenigen, die mit ihrem Geschäftsmodell am längsten überlebt haben. Nach und nach mussten die kleinen Lebensmittelläden auf den Dörfern rings um Bernburg in den vergangenen Jahren angesichts der erdrückenden Discounter-Konkurrenz der Städte schließen.

„Heutzutage hat fast jeder ein Auto und arbeitet in der Stadt, erledigt dort seine Einkäufe vor der Rückkehr nach Hause“, ist sich Heike Hertlings des Zeitenwandels bewusst, der den Dorfläden das Leben schwer macht. Nur in Ilberstedt, Neugattersleben und Peißen können die Einwohner noch oder wieder Dinge des täglichen Bedarfs kaufen. Und eben in Preußlitz, das dennoch viele Federn ließ.

Läden wie den von Familie Hertling gibt es im Salzlandkreis noch in Ilberstedt, Neugattersleben und Peißen

Zwei Gaststätten, Polizeistation, Poststelle, Konsum, Schule und Kindergarten existierten noch zur Wende. Heute gibt es neben Hertlings Tante-Emma-Laden nur noch einen Friseur und ein Kosmetikstudio im Dorf. Auch deshalb ist das Geschäft so etwas wie ein Treffpunkt aller hier lebenden Generationen geworden.

„Die älteren Männer kommen, um über Fußball im Fernsehen zu diskutieren, die jüngeren, um über ihr eigenes Spiel zu sprechen. Oft haben sie ihre Frauen dabei, die dann über Kindererziehung oder Backrezepte fachsimpeln“, erzählt Antje Knaak, Tochter der Hertlings. „Auch die Kinder können sich bei uns beschäftigen, im Sandkasten spielen oder den Hof mit Kreide bemalen“, ergänzt ihre Mutter.

Vordergründig geht’s aber ums Einkaufen. Auf 20 Quadratmetern bieten Hertlings Obst und Gemüse, Getränke, Konserven, Süßigkeiten, Drogerieartikel und Tiefkühlware an. Auch auf frische Brötchen müssen ihre Kunden nicht verzichten.

„Bis zu seiner Rente belieferte uns Bäcker Freitag aus Peißen, inzwischen bringt Bäcker Siegmann aus Bernburg montags bis samstags Brötchen und Brot“, erzählt Heike Hertling, die seit vier Jahren bei den „Putzbären“ als Gebäudereinigerin arbeitet und den Laden nur noch im Nebenerwerb führt.

Auch Zuckertüten, Bügeleisen oder Haushaltsgeräte werden verkauft, wenn Kunden es wünschen

„Wir können ihn uns nur leisten, weil er unser Eigentum ist.“ Morgens stehe ihr Mann allein hinterm Tresen, am Nachmittag nach ihrer Arbeit und am Samstag helfe sie mit. „Bis auf die Zeitungen und Backwaren hole ich die Ware aus dem Großmarkt in Halle“, sagt der 58-Jährige. Von dort bringe er auch mal etwas mit, was sonst nicht im Laden erhältlich ist, von den Kunden aber bestellt wird.

Zum Beispiel Zuckertüten, Bügeleisen oder andere Haushaltsgeräte. Einmal habe er eine Frau gleich mitgenommen zur Einkaufstour, damit sie sich einen neuen Fernseher aussuchen kann.

Am Sonnabend  hängen Hertlings frische Brötchen an viele Türklinken

Überhaupt wird Service von den Hertlings großgeschrieben. Sonnabends hängen sie einem guten Dutzend Kunden in umliegenden Dörfern Beutel mit frischen Brötchen an die Türklinke, ein Seniorenheim in Köthen wird seit 20 Jahren jeden Freitag beliefert.

„Dann bringe ich meistens Schokolade, bunte Zeitschriften oder einen Deostick mit. Danach wird geschlabbert. Das ist so wichtig für die alten Leutchen, auch wenn es uns finanziell nichts bringt“, betont Heike Hertling, dass Geld eben nicht alles ist.

Hinter ihrem Laden liegen gute wie schlechte Zeiten. „Zwischen Liebe, Stolz und Verzweiflung ist hier alles dabei“, sagt sie. Mit Erreichen des Rentenalters in ein paar Jahren soll nicht automatisch Schluss sein: „Solange wir gesund bleiben und die Kundschaft kommt, machen wir weiter“, sagt Roland Hertling. (mz)