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Flüchtlinge 1945 in Bernburg Flüchtlinge 1945 in Bernburg: Am "Umsiedlerbahnhof" war immer etwas los

Von Gerald Fischer* 24.10.2016, 13:50
Blick auf den damaligen Waisenhausplatz mit Toilettenhaus (rechts im Bild) vom heutigen Kreisverkehr aus. Im Jahr 1960 wurde er in Louis-Braille-Platz umbenannt.
Blick auf den damaligen Waisenhausplatz mit Toilettenhaus (rechts im Bild) vom heutigen Kreisverkehr aus. Im Jahr 1960 wurde er in Louis-Braille-Platz umbenannt. Fischer

Bernburg - Auf dem Waisenhausplatz (heute Louis-Braille-Platz) in Bernburg stand bis in die 1970er Jahre ein Toilettenhaus. Es war ein langgestreckter Ziegelbau, mit einem auf der abgewandten Seite der Eingänge weit überstehenden Dach. Unter diesem Dach stand eine acht Meter lange - fest angebrachte - massive Bank, bestimmt noch vom Kaiser. Die überdachte - nach drei Seiten offene Fläche - war vier mal acht Meter groß und zu jeder Zeit rammelvoll. Die Sitzplätze wurden in aller Herrgottsfrühe, so gegen 7 Uhr, eingenommen und waren den ganzen Tag besetzt.

Im Volksmund hieß dieser Treffpunkt „Umsiedlerbahnhof“. Denn diese örtliche Besonderheit war fest in der Hand der Umsiedler, wie sie damals offiziell genannt wurden. Einen anderen Ausdruck konnte man auch nicht in der russischen Besatzungszone gebrauchen, nur denken, dies aber auch nicht zu laut. Wer den Begriff „Umsiedlerbahnhof“ als Erster ausgesprochen hat, ist nicht überliefert. Wenn ich nach Großvater fragte, hieß es immer, er sei am „Umsiedlerbahnhof“.

Ein Treffpunkt für Originale

Es waren auch die meisten Egerländer dort. An einige Originale erinnere ich mich noch ganz genau. Wie an den alten Uhl mit seinem Leierkasten, der in der Stadt und bei jedem Fest aufspielte. Oder der Scherenschleifer mit Holzbein, diesen konnte man im ganzen Kreis antreffen. Er sah immer finster drein.

Und ich dachte jedes Mal an den Krampus, der kleine Kinder aufschlitzt und auf einen Gartenzaun gehängt haben soll. Dieses Schauermärchen hat mir jemand noch als Kind im Egerland erzählt. Einen Vertriebenen aus Ungarn gab es auch noch, der mir kleinen Buben immer weiß machen wollte, dass die Deutschen in Ungarn, weil sie so fleißig waren, mehr Wein im Keller hatten als Wasser im Brunnen. Dies glaubte ich schon damals nicht.

Mein Großvater hatte auch seinen Stammplatz als Original dort am Waisenhausplatz. Da ich sehr oft mit ihm an diesem „Umsiedlerbahnhof“ war, kann ich einiges von den Abläufen erzählen: Als erstes in der Frühe hieß es erst einmal Plätze einnehmen. Wenn ich Glück hatte, durfte ich mit Großvaters Stab, mit einem Nagel am unteren Ende, die knapp bemessene Tabakration aufbessern.

Großvater war ein starker Raucher. Die Zigarettenstückl, wie er sagte, wurden vom Papier getrennt, mit richtigem Tabak und manchem Zeug, das der Großvater immer allein suchte, gemischt. Dies kam dann in einen riesengroßen Tabakbeutel aus Leder.

In der morgendlichen Runde wurde dann ausgewertet, wo gibt es was, wer sucht dies oder das. Manchmal gab es Kochtöpfe in der Gießerei Keilmann, dann wieder Besen bei Kniese oder Oberreich an der Lindenstraße. An der Franzstraße liegt ein gestürzter Baum und kann geholt werden.

Beim Kohlenhändler Michel aus Neuborna werden spottbillige Presslinge aus Kohlengrus angeboten, bei Trümper Strickjacken ohne Marken. Oder bei Hensel an der Wilhelmstraße Textilien mit Anzahlung, äußerst selten in der damaligen Zeit.

Die Top-Themen lagen in der Erntezeit: Das Weizenfeld von Bauer Peters in Gröna wird morgen ab Mittag zum Ährenlesen freigegeben. In der Gegend von Plötzkau ist ein ganz scharfer Flurhüter, Vorsicht! Der Kartoffelacker beim Schacht Wintershall von Bauer Fricke wird am Sonnabend in der Frühe zum Stoppeln freigegeben.

Die ersten waren dann schon, wie ich aus Erzählungen weiß, vor 4 Uhr auf dem Acker. Bauer Krüger suchte für die Rübenernte drei Leute, am besten Frauen mit größeren Kindern als kostenlose Arbeitskräfte.

Eine Job-Waren-Börse

Bei den am Umsiedlerbahnhof gezeigten Aktivitäten würde man in der heutigen Zeit wohl von einer Job-Waren-Börse sprechen. Manchmal kam man hin, keiner redete, die meisten zogen wie verbissen an ihren Baumelpfeifen, so als wollten sie den braunen Pfeifensaft herausziehen.

Vom Sterben war nie die Rede. Wenn sich jemand von den Vertriebenen auf den letzten Gang begab, waren aber alle dabei, bekannt oder unbekannt. Es musste eben nur ein Landsmann sein. So langsam ging über die Jahrzehnte ein Stück Egerländer Geschichte in Bernburg zu Ende.

Bei einem Hutschennachmittag fragte ich die älteren Landsleute nach dem Umsiedlerbahnhof in Bernburg - Fehlanzeige. Soll ich nun in Bernburg der letzte sein, der dies alles noch erzählen kann? Aus Angst, dass dies in Vergessenheit gerät, schrieb ich es auf.

*Der Autor ist Vorsitzender der Egerländer Gemeinde (Eghalanda Gmoi) in Bernburg (mz)