Bernburg Bernburg: Schlecker-Frau in Sackgasse
bernburg/MZ. - Henriette M. (Name geändert) ist nicht arbeitslos. Arbeitslosengeld erhält sie trotzdem. Bislang. Die Agentur für Arbeit hat die Zahlung an die 44-Jährige vorläufig eingestellt. Grund: Die Schlecker-Mitarbeiterin hat sich nicht bei einem Arbeitgeber vorgestellt, der ihr vom Amt vorgeschlagen worden ist. Nicht irgendwo hier im Altkreis Bernburg, wo Henriette M. in einem kleinen Dorf in einem Häuschen mit Garten und Ehemann lebt, sondern in Garrel. Garrel? Das ist ein Ort im Emsland. Laut Routenplaner 358 Kilometer entfernt, Fahrzeit für eine Strecke: mehr als dreieinhalb Stunden.
Henriette M. versteht die Welt nicht mehr. 20 Jahre lang lebte sie im Kosmos des Schlecker-Imperiums. Sie fing 1991 als Verkäuferin an, arbeitete sich zur Filialleiterin und schließlich zur Bezirksleiterin hoch. Nun ist Schluss. Noch bis 31. Juli ist die Anhalterin bei der insolventen Drogeriekette beschäftigt. Geld erhält sie trotzdem seit einigen Monaten nicht mehr. Die Arbeitsagentur sprang ein, erst mit Insolvenzgeld, seit Mai mit Arbeitslosengeld.
Die 44-Jährige erinnert sich noch genau an jenen 23. Januar, als Schlecker die Zahlungsunfähigkeit anmeldete. "Das werde ich nicht vergessen, das war schrecklich. Es war ein Freitagnachmittag. Ich war in Bad Düben, als mich eine Mitarbeiterin anrief, dass gerade im Fernsehen über die Schlecker-Insolvenz berichtet wird." Sie habe es kaum glauben wollen und ihren Sohn in Aachen angerufen, der mit einer Recherche im Internet die Hiobsbotschaft bestätigte. Die Firmenleitung habe sie erst am Abend per Fax über den Gang zum Amtsgericht informiert. Auch in den folgenden Wochen sei die Informationspolitik der Firma selbst Führungskräften gegenüber mangelhaft gewesen: "Details haben wir nur aus den Medien erfahren." Die Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht, währte trotzdem lange. "Ich hatte damals noch nicht gedacht, dass es zu Ende ist."
Bezahlung besser als der Ruf
Ein Ende, das sich allerdings abgezeichnet hatte: Die Umsätze waren seit Jahren rückläufig, Schlecker schrieb hohe Verluste, die Kunden blieben weg. Henriette M. glaubt, den Grund zu kennen. "Er konnte nicht genug Gewinn machen." Mit "Er" meint sie ihren Dienstherren Anton Schlecker. Mit zum Schluss vergleichsweise ambitionierten Preisen sei Schlecker nicht mehr konkurrenzfähig gewesen, räumt sie ein. Dennoch: Ihr Arbeitgeber sei bei der Entlohnung der Mitarbeiterinnen besser als sein Ruf gewesen, betont Henriette M. "Wir haben kein schlechtes Geld verdient, auch im Vergleich zu Mitbewerbern."
Die 44-Jährige, die am 30. März mündlich von ihrer eigenen Kündigung erfuhr und diese einen Monat später Schwarz auf Weiß bekam, gibt auch ver.di eine Teilschuld am Aus für das einst größte deutsche Drogerie-Unternehmen. Die von der Dienstleistungsgewerkschaft vor zwei, drei Jahren ausgehandelte Beschäftigungsgarantie für alle Mitarbeiter habe sich negativ ausgewirkt, ist sie überzeugt.
Im April musste Henriette M. zum ersten Mal in ihrem Leben Bekanntschaft mit der Arbeitsagentur machen. Eine Bekanntschaft, auf die sie liebend gern verzichtet hätte. Wirkliche Hilfe habe sie von der Behörde nicht bekommen. In den vergangenen Wochen hat die Frau rund 25 Bewerbungen geschrieben, teils auf Stellenanzeigen, teils aus Eigeninitiative. Bislang ohne Erfolg. Auch nicht beim früheren Konkurrenten Rossmann. "Ich kenne keine Kollegin, die dort bisher untergekommen ist." Dabei hätte die 44-Jährige kein Problem damit, sich wieder an die Kasse zu setzen. "Das habe ich ja gelernt."
Die für sie zuständige Agentur für Arbeit hat ihr bislang 15 Stellenangebote unterbreitet, meist als Filialleiterin in anderen Branchen, wie in Baumärkten oder Textilketten. Eine kleine Auswahl: in Oberbayern, Entfernung 529 Kilometer, Fahrzeit fünfeinhalb Stunden; am Neckar, Entfernung 597 Kilometer, Fahrzeit gut sechs Stunden - für eine Strecke wohlgemerkt. Selbst bei der Arbeitsagentur könnte sie als Bezirksleiterin anfangen, so eine Offerte. Dafür müsste Henriette M. "nur" 370 Kilometer anreisen. Der ihrem Wohnort am nächsten liegende potenzielle Job befindet sich in Garrel (Emsland): 358 Kilometer entfernt. Weil sie sich im dortigen Sonderposten-Baumarkt nicht vorstellte, drohen ihr nun Sanktionen seitens der Arbeitsagentur.
Am Dienstag dieser Woche erhielt Henriette M. ein Anhörungsschreiben. Darin heißt es wörtlich: "Sie haben sich beim Arbeitgeber nicht vorgestellt oder beworben. Laut den Eintragungen stellen Sie sich dem Arbeitsmarkt für die Bundesländer Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg und Niedersachsen zur Verfügung. Diese Stelle ist in Niedersachsen."
Die Schlecker-Frau wollte ihren Augen kaum trauen, als sie diese Zeilen las. "Ich habe kein Problem, mit dem Auto weite Strecken zu fahren. Bisher war ich ja auch täglich 500, 600 Kilometer mit dem Firmenwagen unterwegs. Aber abends wieder zu Hause." Das wäre nicht möglich, wenn sie im Emsland arbeiten müsste. Ihr Ehemann sei bereits auf Montage, irgendjemand müsse sich ja um Haushalt und Garten kümmern. Ein neuer Job sollte sich ja auch rechnen. "Sicher nicht für fünf Euro die Stunde und die Fahrt mit dem Privat-Pkw bei den jetzigen Spritpreisen. Die größte Frechheit ist, dass ich mir nicht selbst aussuchen kann, was ich für mich will", fühlt sie sich von der Arbeitsagentur gegängelt. "Da sitzt man dort wie Klein-Doofchen und kommt sich vor wie der letzte Dreck. Ich weiß nicht, ob die Agentur-Mitarbeiterin so weit fahren würde, wenn man sie dorthin versetzen würde." Niedersachsen sei schließlich nicht gleich Niedersachsen, ein Job in Helmstedt schon ein gewaltiger Unterschied zu einer Stelle im Emsland.
Im Anhörungsschreiben stellt die Agentur-Mitarbeiterin zum Emsland-Job weiter fest: "Das Stellenangebot war für Sie nach meinem bisherigen Kenntnisstand zumutbar. Ich muss nun prüfen, ob eine Sperrzeit eingetreten ist (§144 Drittes Buch Sozialgesetzbuch III). Während einer Sperrzeit steht Ihnen kein Arbeitslosengeld zu, weil Ihr Anspruch ruht."
Henriette M. ist aufgefordert, ihr Verhalten bis 5. Juli schriftlich zu erklären. Sonst werde "nach bisherigem Kenntnisstand" entschieden. Der Brief endet mit dem Satz: "Um Überzahlungen zu vermeiden, habe ich die Zahlung vorläufig eingestellt (§ 331 SGB III)." Die Betroffene wird damit das für Monat Juni rückwirkend auszuzahlende Arbeitslosengeld nicht erhalten.
Eineinhalb Stunden Anfahrt okay
Ist ein Job im Emsland zumutbar? Laut Arbeitsagentur-Sprecherin Marion Tuchel ja. Der Gesetzgeber gehe davon aus, dass in der Regel eine Anfahrzeit zur Arbeit von bis zu anderthalb Stunden kein Problem darstelle. Für das mittlere Management, zu dem Henriette M. als Schlecker-Bezirksleiterin zähle, könne der Rahmen indes weiter gefasst werden. Wie weit, das hänge von den persönlichen Lebensumständen ab. Marion Tuchel rät jedem Betroffenen, strittige Sachverhalte mit der Arbeitsagentur schnellstmöglich in einem persönlichen Gespräch zu klären.