Bernburg Bernburg: Bummel über Bernburgs «Reeperbahn»
BERNBURG/MZ. - Gehör musste sich Joachim Grossert nicht erst verschaffen. Kaum, dass er am Treffpunkt Saalplatz eingetroffen war, stellten alle Anwesenden ihre Gespräche ein. Einmal mehr wollten sie dem Gästeführer vom Verein für Anhaltische Landeskunde zuhören, wenn er anschaulich und lebendig die Geschichte der Stadt an Gebäuden und Plätzen erklärt. Ein technisches Hilfsmittel hatte er auch dieses Mal nicht, und so war jedes gesprochene Wort "live", sozusagen "unplugged", wie es Grossert formulierte.
Mit Freude registrierte Grossert das steigende Interesse an der Stadtgeschichte. "Prima, dass sie da sind", begrüßte er die Gäste der dritten Straßenführung anlässlich des diesjährigen Stadtjubiläums. Selbst für geschichtlich Interessierte dürfte es neu gewesen sein, von der "Bernburger Reeperbahn" zu hören. Und mit nicht weniger Interesse dürften sie gehört haben, dass die Villen in der Solbadstraße ausschließlich ungerade Hausnummern haben.
Zunächst jedoch ging es über die Saalebrücke und die Teilnehmer des Rundgangs erfuhren etwas über die Vorgängerbrückenbauten, die Schifffahrt auf der Saale und die Uferbebauung links und rechts der Talstadtseite - beziehungsweise was davon noch übrig ist. Dort, wo einst der Erbsenspeicher stand, sind seniorengerechte Wohnungen entstanden. Ganz verschwunden sind das Warenhaus Koskoden, das Anfang der 30er Jahre dem neuen Brückenverlauf Platz machen musste, und der berühmte "Victoriapark", der abbrannte, verfiel und in den 60er Jahren ganz abgerissen wurde. Das sei neben dem Kurhaussaal der wichtigste Veranstaltungssaal gewesen, bemerkte Joachim Grossert. "Und die Bernburger haben schon immer gern gefeiert."
Nach einem kurzen Stopp vor dem ehemaligen Regierungsgebäude und dem Haus am Markt 23 mit der auffälligen Fassade eines spätgotischen Fachwerkshauses, die ursprünglich zu einem Haus in der Breiten Straße 103 gehörte, führte der Weg zur Marienkirche. Beinahe hätte das Bauwerk die DDR nicht überlebt, denn man hatte es laut Grossert 1989 schon aufgegeben. Doch die Kirche sei nicht nur schön, sondern auch "ganz wichtig für die Stadt", sagte Grossert. "Das ist der Kristallisationspunkt der Stadt."
In Sichtweite befindet sich an einem Haus auch das Innungszeichen der Seiler, denn in diesem Haus befand sich einst das Gewerbe von Seilermeister Menge. Hierzu erzählte Grossert, dass man die Strecke, die man benötigt, um ein Seil zu spannen und zu drehen, "Reeperbahn" nennt. Also könne man die Schlippe von der Kirche zur Nienburger Straße eigentlich als "Bernburger Reeperbahn" bezeichnen, scherzte Grossert.
Nach einem geschichtlichen Ausflug in die Breite Straße, deren Gesicht sich im Laufe der Jahrzehnte auffällig verändert hat, da zahlreiche Gebäude nicht mehr stehen, unter anderem eine Filzfabrik und ein Margarinegeschäft, (Grossert: "Die Straße wurde vom Zweiten Weltkrieg verschont, nicht aber von der DDR."), führte der Weg in die Adolf-Diesterweg-Schule. Jene Schule, die einst Hermann Henselmann besucht hatte, bevor er zum "Stararchitekten der DDR" aufstieg. In der eindrucksvollen Aula der einstigen Knabenmittelschule mit der auffälligen Farbgebung, der pompejanischen Malerei, die 1863 erbaut wurde, stellte Grossert den geistigen Schöpfer der Stalinallee und des Fernsehturms in Berlin sowie den Uni-Hochhäusern in Leipzig und Jena in einem Kurzporträt vor.
In der Nienburger Straße führte der Weg bis zur ehemaligen Stadtgrenze am Nienburger Torturm, einst auch als "Hirtentor" bezeichnet, zum Hasenturm auf einen sonst verschlossenen Pfad über die Breite Straße zum Buschweg. In der Nienburger Straße erinnerten sich die älteren Bernburger noch an das Entbindungsheim und der Kindergarten "Sonnenschein", die einst in dem Gebäude untergebracht waren, in dem sich heute eine Jugendeinrichtung des Vereins Rückenwind befindet. Vor mehr als 100 Jahren war es als Bankgebäude von Levi Calm errichtet worden. In unmittelbarer Nachbarschaft, in der Nr. 19, steht ein einst nicht weniger repräsentatives, wenngleich derzeit in deutlich schlechterem Zustand befindliches Gebäude mit reichem Fassadendekor. Mit Luise von Sigsfeld hatte es einst im Jahr 1860 eine Frau erbauen lassen. Später war es Internat für die Schüler des Instituts für Lehrerbildung, heute steht es leer. Zuletzt war dort nach Angaben von Joachim Grossert im Jahr 2002 ein Altenheim geplant.
Emotional wurde es dann im Buschweg am Standort der ehemaligen Synagoge, die 1938 niedergebrannt und deren Fundament erst vor sieben Jahren freigelegt wurde. Grossert erinnerte an das Schicksal der in Bernburg lebenden Juden und lud die Anwesenden zur jährlichen Gedenkveranstaltung am 9. November auf das Gelände ein, das heute zum Kindergarten "Marienkäfer" gehört.
Schließlich kam Grossert noch auf das Thema Bernburg als Kurort zu sprechen. Das Kurhaus und das einstige Kurhotel (neben dem früheren Kinderheim) am Kaiplatz sind Zeugen dieser Zeit und auch die gegenüberliegenden vom Architekten Stoye Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Solbadvillen erinnern an diese Tradition. Eigentlich habe man nach der Ansiedlung von Solvay reiche Kurgäste mit der Sole nach Bernburg locken wollen, aber das misslang. "Es war immer ein Zuschussgeschäft", sagte Joachim Grossert. Immerhin sind heute bis auf eine Villa dieser Häusergruppe alle saniert und bewohnt.
Schon vor dem Ende der zweieinhalbstündigen Führung im Rosenhag zückten die ersten Teilnehmer des Rundgangs ihr Portemonnaie - offensichtlich erfahren mit dem Abschluss dieser Veranstaltungen - um für den Erhalt des jüdischen Friedhofs zu spenden. Denn Geld nimmt Grossert für seine lebendige Geschichtserzählung nicht, wenngleich dies allemal gerechtfertigt wäre. Dafür spendeten die Besucher aber wieder reichlich: 260 Euro kamen diesmal zusammen.