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Wettbewerb der Grundschulen Wettbewerb der Grundschulen: Wenn kleine Hanseaten zu Stolpersteinen werden

Von Stephan Neef 24.04.2001, 19:24

Thale/MZ. - Und weil sich die neun Titel-Aspirantenlange und intensiv auf den wortreichen, 90-minütigenEndkampf vorbereitet hatten, mussten sie schonwährend der Trainingsphase oft genug das Gefühlwonnereicher Ferien erlebt haben. Immerhinwaren sie bereits in den 4. Klassen ihrerHeimatschulen zum besten (Vor-)Leser gekürtworden und hatten damit auch die letzte Hürdefür die Meisterschaftsrunde absolviert. Dochdie entpuppte sich als schweißtreibender Kraftakt.

Als die Lostrommel über die Reihenfolge derAuftritte entschied, war die Spannung unüberhörbar.Kaum hatte der Startleser sein Kürbuch vorgestellt,stieß er auch schon einen herzerweichendenSeufzer aus. Welch' ungewohnter Stress: 30Augenpaare ruhten auf ihm, 60 Ohren warengespitzt, auch die Stifte der gestrengen Jury.

Zweimal fünf Minuten lesen - das sind 600Sekunden, in denen nur die eigene Stimme zuhören ist. Und das vor dieser Kulisse. Nachdemauch der Lesethron auf kindgerechte Höhenzurückgeschraubt war, begann der Ausflug indie abenteuerliche Welt des Buches. Und dagab es tatsächlich Ferien pur, von einer "Wochevoller Samstage" bis zur Klassenfahrt mitStinkbombe und Strandpicknick. Kein Wunder,dass sich Bibliotheksleiterin Dorothea Ulischmehrfach entschuldigte, weil es natürlich"gemein ist, so spannende Geschichten einfachabzubrechen".

Zur eigentlichen Bewährungsprobe wurden aberdie Kinder aus dem Möwenweg. Das gleichnamigeBuch der Hamburger Autorin Kirsten Boie wardie unbekannte, mit Stolpersteinen gespicktePflichtlektüre und führte die Harzer Leserattenin eine fremde Großstadt-Welt. Die nordischenAltersgefährten, die sich "Coolkids" nannten,waren ja ganz nett. Aber sie trugen unglaublicheNamen, die manchen Leser zur Verzweiflungund um wertvolle Punkte brachten. Petja, Tara,Laurien und Tienecke gingen auch Stefan rechtreibungslos über die Lippen. Doch dieses Quartetthatte einen Freund, der - Vincent hieß.

Als Vincent erstmals im Buchstaben-Gestrüppauftauchte, glaubte Stefan seinen Augen nichtzu trauen. Sekundenlang starrte er wie gebanntauf das kleine Wortungetüm. "Wieeen-zett",kam es schließlich aus ihm heraus. "Wiiiiin-zent",korrigierte er im zweiten Anlauf. Und hofftefortan, dass der komische Kerl sich für dienächsten vier Minuten verzieht und den preiswürdigenLesefluss nicht noch einmal stoppt. Denkste,da war er wieder. Die Schweißtropfen perlten,die Lippen bebten. "Wüüüün-zenttt", schimpfteStefan fast. Die ersten Zuhörer kichertenschon. Vielleicht hätte Stefan den Wettbewerbnoch gewonnen, aber Vincent war in fast jedemSatz versteckt.

Und so machte Jeannette Pinnow (GrundschuleWeddersleben) das Rennen, die in ihrer Kürübrigens den unsterblichen Alfons Zitterbackewieder belebte. Gelohnt hat sich der Lesestressfür alle. Gutscheine der Buchhandlung "AmBodetal" bekam zwar nur das Sieger-Trio, aberdie dicke Wundertüte der Bibliothek samt Urkundeund den Harry Potter-Superkalender gab's fürjeden Finalisten.

Der kleine Lesewettbewerb ging übrigens aufdie Initiative engagierter Grundschullehrerzurück, die mit dem auf eine Wochenstundereduzierten Leseunterricht unzufrieden sind,wie die Mitteldeutsche Zeitung erfuhr. Ineiner Zeit, in der Flüchtigkeit und Funktionalitätdas Lesen bestimmen und nur noch das und nurnoch so viel gelesen wird, was bzw. wie unbedingterforderlich ist, soll zumindest Kindern derStellenwert des Buches nahe gebracht werden.Denn "Bücher sind wie große Ferien", wissenKenner.