Akuter Lehrermangel Seitentür für Seiteneinsteiger in Aschersleben
Olivia Klingner und Susanne Pade sind zwei von landesweit knapp 600 Männern und Frauen mit einem alternativen Weg ins Lehramt.

Aschersleben - Wenn Olivia Klingner mit ihrer Klasse Bruchrechnung übt, dann zieht sie zuweilen eine Tafel Schokolade aus der Tasche. Auf dass sich Verstehen und Geschmack verbinden. „Man muss sich halt immer wieder was Anschauliches einfallen lassen“, sagt die 38-Jährige. Die Diplom-Geografin unterrichtet als Seiteneinsteigerin Geografie und Mathe an der Gemeinschaftsschule „Albert Schweitzer“ in Aschersleben. Und sie hilft auf diese Weise, ein drängendes Problem zu lindern: den Lehrermangel im Land.
Neben ihr gibt es weitere Kollegen und Kolleginnen an der Schule, die nicht Lehramt studiert haben, sondern eine andere Fachrichtung - so wie landesweit knapp 600 Frauen und Männer. Susanne Pade zum Beispiel. Die Ascherslebenerin absolvierte ein Kunststudium an der Burg Giebichenstein. Als Künstlerin arbeitete sie unter anderem als Dozentin in der Kreativwerkstatt. Für Olivia Klingner war es schon in der Schulzeit ein Wunsch, den Lehrerberuf zu ergreifen.
„Aber die Studiengänge waren damals wahnsinnig überfüllt, es hat einfach nicht geklappt“, berichtet sie. Die dreifache Mutter engagierte sich zunächst in der Bibliothek ihres Heimatortes Teutschenthal und arbeitete befristet an der Grundschule ihres Ortes - ohne den Gedanken daran, die Arbeit zum Beruf zu machen. Beide Frauen wurden quasi von anderen „entdeckt“ - wegen ihres Umgangs mit Kindern, wegen ihrer Art, zu erklären und auf sie einzugehen.
Man muss sich halt immer was einfallen lassen"
Olivia Klingner, Diplom-Geografin
Um vor einer Klasse zu stehen, sind pädagogische Kenntnisse nicht zwingend nötig. Zugangsvoraussetzungen sind ein Studium, aus dem sich Unterrichtsfächer ableiten lassen, und persönliche Eignung. Olivia Klingner erinnert sich genau an ihre erste Unterrichtsstunde in einer sechsten Klasse. Augen zu und durch, beschreibt sie ihre Gefühle von damals, so richtig zum Nachdenken sei sie gefühlt erst nach drei Wochen gekommen. Susanne Pade hat zunächst acht Wochen hospitiert, ehe sie zum ersten Mal allein vor einer Klasse stand.

Bereut haben beide ihren Entschluss an keinem einzigen Tag, sagen sie. „Natürlich ist es anstrengend und man lässt gerade am Anfang auch Nerven“, sagt Olivia Klingner. Doch geholfen hätte ihnen der Rückhalt im Kollegium. „Es gab keine Vorbehalte gegen uns, das Kollegium hat uns getragen und ist sehr wertschätzend“, bestätigt Susanne Pade.
„Unsere Seiteneinsteiger waren ein Glücksgriff für alle Beteiligten“, gibt Grit Röhl das Kompliment zurück. „Für uns sind es neue Kollegen, keine Seiteneinsteiger“, sagt die stellvertretende Schulleiterin. Studienjahre seien am Ende keine Garantie dafür, den richtigen Beruf gefunden zu haben. Und auch wer über Umwege zum Beruf kommt, müsse innerhalb eines Jahres ehrlich entscheiden, ob er dabei bleibt. „Wenn das Jahr bis zur Entfristung der Stelle an den Nerven zehrt, sollte man ernsthaft überlegen.“ Aus ihrer Sicht war es fahrlässig von der Landesregierung, die jetzige Situation überhaupt entstehen zu lassen. „Es ist nicht gelungen, ausgebildete Lehrer zu halten“, sagt sie. Das habe mit Bezahlung zu tun, mit Fragen der Verbeamtung und nicht zuletzt mit der Ausstattung der Schulen.

Im Kollegium gab es keine Vorbehalte gegen uns
Susanne Pade, Künstlerin mit Masterabschluss
Über gute bis sehr gute Erfahrungen mit Seiten- bzw. Quereinsteigern an seiner Schule kann auch Schulleiter Martin Michaelis berichten. An der freien Gemeinschaftsschule „Adam Olearius“ unterrichten derzeit sechs Seiteneinsteiger in unterschiedlichen Fächern. „Wir hatten aber auch schon Bewerber, die falsche Vorstellungen mitbrachten“, sagt er. Dies sei aber in Ordnung, und deshalb werde zunächst auch nur eine vorläufige Unterrichtserlaubnis erteilt. Zuweilen höre er - wenn auch nicht im eigenen Kollegium - Stimmen von Berufskollegen, die den eigenen Abschluss durch diese Form der Lehrergewinnung abgewertet sehen. Er sei aber überzeugt, dass auf diese Art gute Leute gewonnen werden können.
„Sie haben nochmal einen anderen Blick auf die Schüler“, findet er. Angesichts der Tatsache, dass in den nächsten zehn, 15 Jahren viel mehr Lehrkräfte in den Ruhestand gehen als nachkommen, „wird der Seiteneinstieg wohl eher Normalität als Ausnahme“. Die Corona-Pandemie habe ihm deutlich vor Augen geführt, dass auch andere Unterrichtsformen als die bisher gewohnten möglich sind - das Verlegen von Unterricht ins Digitale zum Beispiel. „Ich denke, dass wir uns dem nicht verschließen können, wenn wir nicht an der Stundentafel herumbasteln wollen.“ (mz)