Salzlandkreis Salzlandkreis: Das Geheimnis von Zyklon B
NACHTERSTEDT/MZ. - Hans-Joachim Budewell erinnerte sich sofort. Der 65-jährige Nachterstedter hatte in der Zeitung über neu aufgetauchte Dokumente gelesen, wonach die Nazis während des Zweiten Weltkriegs ausgerechnet in der Nähe der Siedlung, in der vor einem Jahr der verheerende Erdrutsch stattfand, geheime militärische Anlagen betrieben. "Einen Giftgas-Betrieb hat es hier in der Nähe tatsächlich gegeben", sagt Budewell. Er erzählt: Dass in dem IG Farben-Werk im Nachbarort Frose Giftgas - genauer: Zyklon B - produziert wurde, hätten ihm ältere Nachterstädter bestätigt, nachdem er 1975 in den Braunkohle-Ort gekommen war, um eine Stelle im dortigen Aluminium-Werk anzutreten. "Aber es war nicht leicht, das aus ihnen heraus zu bekommen", berichtet er.
Unterirdisches Lager
Zyklon B war ein Pestizid, das die Nazis auch in Auschwitz und anderen KZ zur Ermordung von Juden eingesetzt hatten. Das Chemie-Werk in Frose und das Kohle-Werk in Nachterstedt lagen nur gut einen Kilometer voneinander entfernt, beide in der Nähe des Braunkohle-Tagebaus, der inzwischen geflutet worden ist. Dazwischen soll sich nach den jetzt aufgetauchten und von der Frankfurter Rundschau ausgewerteten Militärunterlagen von 1945 unter einer Abraumhalde ein geheimes unterirdisches Lager - möglicherweise für Giftgas - befunden haben. Ein Kriegsgefangener der westlichen Alliierten, ein "Schütze Plumeyer", hatte dies in Vernehmungen ausgesagt und die Anlagen auf US-Luftbildern genau identifiziert.
Bisher war nur bekannt, dass zur NS-Zeit in Frose unter anderem das Antiklopfmittel Tetraethylblei für Flugbenzin hergestellt wurde. Budewell erzählt, wie er auf das Thema kam. Ihm war als Neu-Nachterstädter aufgefallen, dass sich auf besagter Halde ein Friedhof befand, auf dem rund 50 junge Russen beerdigt waren. "Dort waren Grabsteine mit kyrillischer Namen darauf, oft mit Geburtsjahr." Durch das Sterbedatum war zu erkennen, dass es zumeist 17- und 18-Jährige waren. "Das hat mich sehr beschäftigt", sagt der inzwischen pensionierte Chemieingenieur. "Was haben Kinder hier gemacht?" Kaum einer der "Einheimischen" habe sich dazu äußern wollen. Dann habe er aber erfahren: "Es waren junge russische Zwangsarbeiter, die in der Giftfabrik arbeiten mussten, zum Beispiel die Chemie-Tanks reinigen." Nachts seien die Jugendlichen im Braunkohle-Tagebau an Schienen angekettet worden, während sich die Wachleute daneben in einer Unterkunft aufhielten.
Reste dieser Baracke standen Budewell zufolge bis in die 80er Jahre in der Mitte der Werksstraße, die durch den damals noch betriebenen Braunkohle-Tagebau führte. Budewell erinnert sich, dass die Einwohner von Frose und Nachterstedt das IG Farben-Gelände gemieden und ihren Kindern verboten hätten, dort zu spielen. "Es gab dort noch Beton-Auffangwannen, in denn sich Wasser sammelte, und Gebäude-Reste mit einem tiefen Bohrloch, in dem möglicherweise Produktionsreste entsorgt worden waren", sagt er. Das Gelände wurde nach 2000 aufwendig saniert, da die Böden unter anderem mit Nickel und Kobalt verseucht gewesen waren. Nach der Sanierung wurde auf dem Gelände ein Spielplatz angelegt.
Sollte der Zyklon B-Hinweis stimmen, bleibt trotzdem eine Unklarheit. Der "Schütze Plumeyer" hatte angegeben, das Giftgas sei in einer Chemieanlage im Werk Nachterstedt, also nicht in Frose, produziert worden. Nachzuprüfen ist das nicht mehr. Das Nachterstedt-Werk ist längst demontiert, sein Standort liegt heute im See im alten Tagebau. Die Stelle, wo sich das angebliche unterirdische Lager befunden haben soll, existiert hingegen noch - direkt an der Abbruchkante. Die LMBV hat nach eigenen Angaben keinen Hinweis auf ein solches Lager. Man wisse nur von einem Bunker, in dem zu DDR-Zeiten Sprengmittel für den Kohleabbau gelagert worden seien, sagte der LMBV-Sprecher.
Zweifel an NS-Militärbunker
Der Bergmannsverein Nachterstedt äußert derweil erhebliche Zweifel, dass es in dem Ort NS-Militärbunker gegeben hat. Vereinssprecher Wolfgang Karpe sagte dem MDR: "Ich halte nichts davon." Man habe nie etwas von Militär-Bunkeranlagen in Nachterstedt gehört. Bunker seien nur vom Bergbau betrieben worden. Dass diese für den Erdrutsch verantwortlich gewesen sind, ist laut Karpe nicht vorstellbar. Sie befänden sich nahe der Erdoberfläche. Das betreffe "ganz andere geologische Einheiten als die, die jetzt den Erdrutsch ausgelöst haben".
Der Russen-Friedhof existiert übrigens heute noch. Er liegt in dem Gebiet, das seit dem Erdrutsch abgesperrt ist.