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Mauerfall vor 30 Jahren Mauerfall vor 30 Jahren: Westgeld für eine Zeitung

Von Detlef Anders 16.10.2019, 11:56
Axel Pich mit seinem Visum aus DDR-Zeiten.
Axel Pich mit seinem Visum aus DDR-Zeiten. Frank Gehrmann

Winningen - Es gibt Tage, die man nie vergisst. Der 9. November 1989, als in Berlin die Mauer fiel, ist solch ein markanter Tag. Axel Pich, heute Stadtrat in Aschersleben und Ortsbürgermeister von Winningen, war an dem November-Donnerstag zum Brigadekegeln im Hederslebener Hof. Dass währenddessen Weltgeschichte geschrieben wurde, davon bekam Pich nichts mit.

Auch die Freundin und heutige Frau nicht, die wie so oft lange im Labor gearbeitet hatte. Sie hatten sich ohne Radio zu hören oder fernzusehen ins Bett des zwölf Quadratmeter großen Zimmers im Ledigenwohnheim in Gatersleben gelegt. Axel Pich hatte nach dem Bio-Chemie-Studium in Halle 1986 am Institut für Kulturpflanzengenetik und Pflanzenforschung in Gatersleben angefangen und war dort 1989 Doktorand.

Mauerfall vor 30 Jahren: Hörspiel von Orson Welles?

Als am Freitagmorgen das Radio per Zeitschaltuhr anging, war schlagartig alles anders. Bei den ersten Nachrichten dachte Pich noch, dass es sich um ein Hörspiel handelte. So wie bei Orson Welles „Krieg der Welten“ im Radio, wo die Amerikaner anfangs einen tatsächlichen Angriff Außerirdischer zu hören glaubten.

„Ich wusste zwar, was los war. Dass Züge in den Westen fuhren, aber ich habe gedacht, das kann nicht stimmen.“ Erst als er die Nachricht vom Freudentaumel und Tänzen auf der Berliner Mauer das zweite Mal hörte, wusste er, „wir verpassen gerade was“. Er schaltete den Fernseher an. „Da war mir die Promotion scheißegal. Ich bin zu meinem Chef gegangen und habe gesagt, ich muss heute frei haben.“

„Ich habe nie daran gedacht, das Land zu verlassen“, erinnert sich Axel Pich

Mit seiner Freundin, die im Institut Genetikerin war, fuhr er um 8 Uhr nach Aschersleben in die Schmidtmannstraße zur Meldestelle, um den Visa-Stempel zu bekommen.

„Da stand eine elendig lange Schlange. Aber ich habe gesagt, ich brauche den Stempel.“ Er wollte nicht abhauen. „Ich hatte meinen Vater und meine Freunde hier. Ich habe nie daran gedacht, das Land zu verlassen.“ Aber er wollte rüber, sich den „Westen“ selbst mal ansehen.

Seine Freundin war 1989 mit ihren Eltern schon einmal zur goldenen Hochzeit der Großeltern drüben und kannte das schon. Pich nicht. „Ich habe gedacht, die machen das wieder zu“, erklärt er seine Befürchtungen.

Zu Schwiegermutters Geburtstag

Vier Stunden warteten sie, dann bekam Pich den Stempel für drei Tage, seine Freundin jedoch nicht, da ihr Hauptwohnsitz damals in Werder war. Da die Schwiegermutter Geburtstag hatte und am Samstag unweit von Berlin die Feier anstand, wollten sie diese mit einem Besuch Westberlins verbinden. In Werder bekam die Freundin den Stempel. Bei der Feier gab es nur ein Thema. „Wir waren ganz hippelig.“

Freunde nahmen sie am Samstag gegen 23 Uhr zur Glienicker Brücke mit und setzten sie ab. „Da waren Gitter wie beim Einchecken am Flughafen aufgestellt“, erinnert er sich an den Weg bis zu den Grenzposten mit Maschinengewehren. Dann waren sie drüben, in Westberlin.

Mauerfall vor 30 Jahren: Im Streifenwagen zur Bank

Mitten in der Nacht wollten sie zu Fuß in die Stadt. Ohne zu ahnen, dass es bis Charlottenburg über 20 Kilometer weit ist. An der Brücke war es hell, doch dahinter im Dunkeln durch die Nacht … „Dann hielt neben uns ein Polizeiauto an.“ Der erste Schreck wich bald. „Sie fragten, ob wir schon das Begrüßungsgeld haben.“ Die Polizisten wussten, wo in der Nacht eine Bank offen war und brachten sie dorthin.

Siegessäule nicht gefunden

Gegen 1 Uhr hatten sie die 200 Westmark und sahen sich um. „Alles war bunt und roch anders.“ An den geschlossenen Glasfassaden der Autohäuser drückte er sich die Nase platt. An einem offenen Kiosk gab er seine erste und in dieser Nacht einzige Westmark aus. Für eine Frankfurter Allgemeine Zeitung, die er noch heute hat.

Eigentlich wollte Axel Pich unbedingt zur Siegessäule. „Aber wie hatten keinen Stadtplan und keine Orientierung. Wir haben sie nicht gefunden.“ Zwischen vier und fünf Uhr stiegen sie in einen Bus, der sie nach Potsdam brachte. Dann ging es mit dem Taxi nach Werder.

Mauerfall vor 30 Jahren: Auf Leiter trotz Höhenangst

Die Schwiegereltern schliefen noch. „Wir hatten den Schlüssel vergessen.“ Da klingeln nicht half, kam die Freundin auf die Idee, eine Leiter anzustellen. „Ich habe bis heute Höhenangst.“ Aber er überwand sich und kletterte.

Dass die Schwiegermutter inzwischen die Haustür geöffnet hatte und fragte, wo denn Axel sei, lässt ihn heute schmunzeln. Runter wäre er die Leiter nämlich nicht geklettert. „Es war eine Nacht, die ich nie vergessen werde. Eine spannende Zeit, Lebenserfahrung.“

In zwei Systemen je die halbe Lebenszeit verbracht

Damals war er 30, nun wird er 60. In beiden Systemen hat er die halbe Lebenszeit verbracht. „Man weiß heute Dinge anders einzuschätzen.“ Gerade war er in Namibia, wo er ohne den Mauerfall nie hingekommen wäre. Wo er sich angesichts des Elends vieler Menschen aber auch bewusst wurde, wie gut es ihm in Deutschland geht - unabhängig davon, dass manches besser sein könnte.

Arbeitslosigkeit, wie sie nach der Wende viele Menschen hier traf, hätte es in der DDR nie gegeben. „Aber deswegen das Rad der Geschichte zurückdrehen, das möchte ich auf gar keinen Fall.“

Das Leben heute mitgestalten

In der DDR war Axel Pich nie SED-Mitglied, erst recht nicht bei der Stasi. Seine Funktionen: Als Pionier mal Freundschaftsratsvorsitzender und zwangsweise nach dem Studium im Institut für ein Jahr FDJ-Sekretär.

Heute dagegen engagiert sich Axel Pich nicht nur im Beruf als Regionalleiter in der Pharmaindustrie, sondern auch ehrenamtlich für Winningen, im Ortschaftsrat und als Stadtrat von Aschersleben, in der vor zehn Jahren von ihm gegründeten Wählergemeinschaft oder der vor zwei Jahren gegründeten Interessengemeinschaft „Sauberes Winningen“. In der Gemeinschaft des Heimatortes führt er sich wohl. Dass er das Leben heute mitgestalten kann, gefällt ihm. (mz)