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Kippenrutsch Kippenrutsch: Bergleute standen unter Schock und gerieten in Panik

Von WALTER EMMERLING 19.07.2009, 17:18

NACHTERSTEDT/MZ. - Die wassergesättigten sandigen Kippmassen waren fließfähig geworden und rissen weitere schwachbindige Kippmassen mit in den Tagebau.

Man schätzte das Gesamtvolumen auf insgesamt ca. sechs Millionen Kubikmeter. An der Abbruchstelle bildete sich ein Rutschungskessel. Nach etwa zehn Minuten hatte der entstandene Rutschungskessel seine endgültigen Ausmaße erreicht. Der Fuß der Rutschmassen hatte sich bis zu einem Kilometer weit in den offenen Tagebau vorgeschoben. Das Ausbruchsgebiet erstreckte sich über eine Fläche von cirka 16,5 Hektar. Während das technische Ausmaß der Rutschung sofort nach dem Ereignis überschaubar war, konnte über den Verlust von Menschenleben zunächst keine Aussage getroffen werden. Der Zeitpunkt der Rutschung lag während der Schichtablösung des Gerätepersonals.

Die Ermittlungen gestalteten sich äußerst schwierig. Sie dauerten einige Stunden, weil mehrere Bergleute, die sich zum Zeitpunkt der Rutschung im Tagebau befanden, den Betrieb - zum Teil unter Schock stehend - panikartig verlassen hatten. Das Gleiche traf auch für einige Kumpel der gerade anfahrenden Tagesschicht zu. Auch von diesen verließen einige fluchtartig das Tagebaugelände, ohne sich bei ihrer Aufsicht abzumelden. Erst Nachforschungen bei den Familien brachten die Gewissheit, dass das Leben eines Bergmannes zu beklagen war. Dieser Bergmann war als Bandfahrer auf einem Absetzer beschäftigt, der bei der Rutschung mit in die Tiefe gerissen wurde. Trotz umfangreicher Sucharbeiten, auch später bei der Bewältigung der Rutschungsfolgen, konnte der Bandfahrer nie gefunden werden. So wurde er von Amts wegen für tot erklärt.

Glück im Unglück hatte ein Absetzerfahrer. Er konnte sich während der Rutschung seines Gerätes auf die Spitze des Kranauslegers retten. Von hier konnte er in den frühen Morgenstunden des folgenden 3. Februar 1959, nachdem es nachts leicht gefroren hatte, durch die Grubenwehr über Fahrten (Leitern) gerettet werden. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass zum Zeitpunkt der Rutschung die Tagesschicht (vorwiegend Gleisarbeiter) noch nicht an ihren Arbeitsplätzen war, weil im Winterhalbjahr die Arbeitszeit für diese Kollegen von 7 bis 15 Uhr festgelegt war. Andere Beschäftigte (Gerätebesatzungen, Kipper, Lokfahrer usw.) mussten um ihr nacktes Leben laufen.

Die materiellen Schäden der Rutschung waren enorm. Zunächst war die Kohleförderung im Tagebau Nachterstedt für längere Zeit total unterbrochen. Eine teilweise Wiederaufnahme der Produktion in den Brikettfabriken, der Schwelerei und des Kraftwerkes wurde durch Antransport von Kohle aus dem Tagebau Königsaue und die schnell eingerichtete Sondergewinnung aus dem Nachterstedter Oberflöz abgesichert. Im Tagebau Nachterstedt konnte die Kohleförderung erst nach großem Kräfteeinsatz im Nordfeld wieder aufgenommen werden. Der durch den Kippenrutsch verursachte materielle Schaden belief sich auf cirka 12 Millionen Mark.

Die Zerstörung von zwei Absetzern, eines kompletten Abraumzuges und einer Vielzahl von beweglichen Gleisanlagen hatte daran großen Anteil. Diese Rutschung war ein klassischer Fall von Setzungsfließen. Bei solchem Setzungsfließen kann es schon durch geringfügige Erschütterungen (zum Beispiel durch das Fahren von Zügen auf beweglichen Gleisen) zum Zusammenbruch des Gefüges der wassergesättigten Kippen kommen, das heißt, die Böden gehen schlagartig vom festen in den flüssigen Zustand über. Diese gefährlichen Eigenschaften besitzen einige Sande im Bereich Nachterstedt. Sie sind in ihrer Körnung sehr gleichförmig, was die Gefahr der Fließfähigkeit erhöht. Neben diesen objektiven Gründen für die verheerende Rutschung gab es eine Reihe von Mängeln in der Tagebautechnologie im Werk Nachterstedt. So wurden zum Beispiel ungenügende Schlussfolgerungen aus einer bereits im Jahre 1950 erfolgten Kippenrutschung gezogen.

Außerdem wurde eine lückenhafte hydrologische Untersuchung, eine mangelhafte Auswertung von Pegelständen und das Fehlen von Filterbrunnen zur Gebirgsentwässerung zugelassen. Für diese technologischen Mängel wurden einige verantwortliche Leiter gesetzlich zur Rechenschaft gezogen. Die Rutschungskatastrophe von Nachterstedt 1959 war fortan das Paradebeispiel für das Phänomen Setzungsfließen.

Aus dieser Rutschung wurden für den Braunkohlenbergbau in der DDR wichtige Schlüsse gezogen. Um eine Wiederholung in den volkseigenen Braunkohlenwerken auszuschließen und um die Versorgung mit Braunkohle für Kraftwerke, Brikettfabriken usw. abzusichern, wurden in allen Braunkohlenwerken geotechnische Abteilungen eingerichtet und mit Fachkräften für Geologie und Hydrologie bzw. Bodenmechanik besetzt. Von den Bergbehörden wurden Sachverständige mit systematischen Kontrollen zur Durchsetzung wissenschaftlich begründeter Forderungen zur Tagebausicherheit beauftragt. Die Tagebauführung wurde von nun an vor allem auf den Gebieten der Geotechnik, Entwässerung und Bodenmechanik wissenschaftlich begründet (Gutachten) und kontrolliert. Zur Bewältigung der durch die Kippenrutschung entstandenen Schäden im Braunkohlenrevier Nachterstedt wurden verschiedene Einsatzstäbe gegründet.

Aus anderen Revieren der ehemaligen DDR wurden technische Geräte, Materialien und Hilfsmittel aller Art in Nachterstedt zum Einsatz gebracht. Durch hohen Einsatz mit guten Leistungen konnten die Schäden bald beseitigt werden und die Kohleförderung in Nachterstedt wieder kontinuierlich gestaltet werden.