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Unterversorgung Unterversorgung: Kann ich mein Kind bedenkenlos vegan ernähren?

Von Ida Luise Krenzlin 13.07.2016, 10:07
Immer mehr Menschen verzichten mittlerweile ganz bewusst auf tierische Produkte.
Immer mehr Menschen verzichten mittlerweile ganz bewusst auf tierische Produkte. imago/Westend61 Lizenz

In Mailand wurde ein angeblich vegan ernährtes Baby den Eltern weggenommen, wie eine Online-Zeitung berichte. Demnach wurde das Kind am 2. Juli von seinen besorgten Großeltern in die Notaufnahme eines Mailänder Krankenhauses gebracht. Dabei soll das Baby in einem sehr schlechten Gesundheitszustand gewesen sein. Bleibt die Frage: Darf ich mein Baby vegan ernähren und wenn ja, was muss ich dabei beachten?

Denn: Immer mehr Menschen verzichten mittlerweile ganz bewusst auf tierische Produkte. Vegane Ernährung gehört zum Alltag dazu. Es gibt vegane Cafés, vegane Alternativen auf den Speisekarten vieler Restaurants, sogar vegane Fertigprodukte in Supermarktregalen. Zum Produktstempel laktosefrei und glutenfrei ist der Aufdruck vegan gekommen.

Keine Allergie, eine ethische Entscheidung

Während die ersten beiden Lebensmitteleinschränkungen eher mit Allergien begründet werden, entscheiden sich die meisten Veganer aus freien Stücken, oft aus ethischen Gründen, dafür, sich ausschließlich von pflanzlichen Produkten zu ernähren und auf alles Tierische zu verzichten. Erwachsene können diese Entscheidungen für sich treffen. Was aber, wenn sie die Entscheidung, sich vegan zu ernähren auch für ihre Kinder treffen? Dürfen sich Frauen während Schwangerschaft und Stillzeit vegan ernähren? Ihre Kinder ohne Kuhmilch, Fleisch oder Joghurt großziehen? Ist das schlimm? Kann man das machen?

Vegane Ernährung von Kindern ist umstritten

Wer sich mit dieser Frage beschäftigt, begibt sich in tosendes Fahrwasser. Auf der einen Seite steuert das Schlachtschiff der deutschen Ernährung die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE). Ihre Empfehlungen sind bindend für offizielle Ernährungs- und Stillberater, auch Caterer für Schulessen müssen sich an die DGE-Leitlinien halten. Die DGE sagt Ja zur vegetarischen Mischkost, lehnt aber die vegane Ernährung während Schwangerschaft, Stillzeit und der kompletten Kindheit ab. „Je mehr die Lebensmittelauswahl eingeschränkt wird und je weniger abwechslungsreich die Ernährung ist, desto größer ist die Gefahr eines Nährstoffmangels“, so die DGE-Begründung.

Sohra ernährt ihren vierjährigen Sohn vegan

Die Berlinerin Sohra Behmanesh lebt seit 16 Jahren vegan und findet es selbstverständlich, dass ihr vierjähriger Sohn Levi auch vegan isst. Sie findet den Standpunkt der DGE „veraltet, einseitig und unprofessionell“ und hat sogar eine Petition ins Netz gestellt. „Es ist wirklich an der Zeit, dass die DGE ihre überholten Einstellungen modernen wissenschaftlichen Ansprüchen und Erkenntnissen anpasst – so, wie es die großen Ernährungsverbände in den USA, Großbritannien, Kanada und Australien längst tun: Sie alle stehen einer veganen Kinderernährung wohlwollend gegenüber, betonen die gesundheitlichen Vorteile dieser Ernährungsform und unterstützen vegane Familien mit konkreten Ernährungsempfehlungen“, so Behmanesh. 2600 Befürworter haben ihre Petition bereits unterzeichnet.

Vorurteile nehmen ab, zumindest in der Großstadt

Die Berlinerin betreibt die Internetseite Tofufamily, ein unter Veganern und Vegetariern beliebtes Informationsportal. Dort tauschen sich Familien aus, die sich und ihre Kinder rein pflanzlich ernähren. Es geht um vegane Rezepte und um Vorurteile Veganern gegenüber. Sohra selbst hat damit kein Problem: „Ich bin bei einer vegan-freundlichen Kinderärztin, habe eine vegan-freundliche Kita für meinen Sohn gefunden und er wird in eine vegan-freundliche Schule gehen. Außerdem lebe ich seit 16 Jahren vegan - mein Umfeld kennt mich gar nicht mehr anders und deshalb habe ich in meinem Alltag kaum mit Vorurteilen zu tun.“

Mehr zum Streit um die vegane Ernährung von Kindern lesen Sie auf der nächsten Seite!

Kritiker der veganen Ernährung von Kindern betonen vor allem das Risiko einer Mangelernährung. Sie warnen vor einer Unterversorgung, vor allem an Eisen, Jod, Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren mit fatalen Folgen. Und an Vitamin B12. Dieses Vitamin kann nur über Fleisch aufgenommen werden und muss von Veganern komplett ersetzt werden. Der Kinder- und Jugendarzt Berthold Koletzko warnt vor den Folgen einer Unterversorgung an oben genannten Nährstoffen genauso wie vor den Folgen einseitiger Junkfood-Ernährung. Neben der Zunahme von übergewichtigen Kinder, gäbe es auch eine erhebliche Unterversorgung an Vitaminen und Omega-3-Fettsäuren.

Vegane Ernährung muss vollwertig sein

Die Ernährungswissenschaftlerin Edith Gätjen sieht das anders. Sie berät für die Unabhängige Gesundheitsberatung e.V. (UGB) Frauen, die sich während Schwangerschaft und Stillzeit vegan ernähren wollen und deren Kinder am Familientisch später weder Fleisch, Ei, noch Milch bekommen. Aber auch sie betont, dass sich Betroffene sehr gut informieren müssen. „Vegan ernähren allein bedeutet ja nichts. Man kann sich als Veganer auch sehr ungesund ernähren. Nur Weißmehlprodukte und veganes Fast Food? Das reicht nicht. Die vegane Ernährung muss vollwertig sein. Dann kann man auch Kleinkinder sehr gut vegan ernähren. Veganer müssen viel über Lebensmittel wissen.“ Weil das so schwierig ist, rät auch die ansonsten alternativen Ernährungsmodellen aufgeschlossene UGB davon ab, Säuglinge und Kleinkinder vegan zu ernähren.

Know-How um Lebensmittel und Nährstoffe

„Die es machen wollen, können aber zu uns kommen.“ Weil es immer mehr Familien gibt, die sich vegan ernähren, hält es Gätjen für richtig, diese optimal zu beraten. „Man muss viel mehr organisieren, wenn man sich und sein Kind vegan ernähren will. Dazu gehört einfach Know-how.“

Was gehört denn auf den Tisch?

Edith Gätjen fasst zusammen „Täglich drei große Hände voll Gemüse und zwei Hände voll Obst. Dazu Hülsenfrüchte, Getreide, Kartoffeln und Vollkornprodukte aus Hirse, Dinkel oder Hafer. Sojaprodukte und gute Öle wie Leinöl dürfen nicht fehlen. Auch Algen und Nüsse sind wichtig.“ Ihre Aufzählung nimmt kein Ende. Ersetze man B12 und achte auf eine vegane vollwertige Mischkost, könne man auch Kleinkinder vegan ernähren, fasst die Ernährungswissenschaftlerin Edith Gätjen überzeugt zusammen.

Hirsebällchen statt Buletten

Was für Außenstehende kompliziert klingt, ist für Sohra Behmanesh längst Alltag geworden. Sie hat nicht das Gefühl, dass sie sich einschränken muss. „Es gibt für alle Gerichte eine vegane Entsprechung.“ Bei ihr kommen eben Hirsebällchen statt Buletten auf den Tisch. Veganer wie Sohra Behmanesh sind oft sehr gut gebildet, sehr gut vernetzt und auch über Gefahren informiert. Das Risiko, dass ihre Kinder Mangel leiden, ist überschaubar. Gefährlich wird es aber immer, für Kinder und Erwachsenen, plötzlich und unvorbereitet alle tierischen Lebensmittel wegzulassen.