Um sie besser zu verstehen Um sie besser zu verstehen: Lehrer reist ein Jahr in die Heimatländer seiner Schüler

Hamburg - Es ist eine andere Art von Weltreise, die Jan Kammann unternimmt. Sein Buch „Ein deutsches Klassenzimmer“ erzählt nicht von einem Selbstfindungstrip. Es geht nicht darum, auf seiner Tour, sich selbst zu verstehen, sondern seine Schüler, die aus vielen verschiedenen Ecken der Welt stammen. In 14 Heimatländer der Jugendlichen ist Kammann während eines Sabbatjahrs gereist.
In seiner 10d an einer Hamburger Schule versammeln sich 22 Nationen. Der Geographie- und Englischlehrer unterrichtet Schüler ehemaliger Internationaler Vorbereitungsklassen. „In diesen Klassen haben die Kids für ein Jahr Deutsch gelernt, erfolgreich eine Prüfung absolviert und befinden sich nun, kurz vor dem Übergang in Klasse 11, auf dem steinigen Weg in Richtung Schulabschluss.“ Ein Weg, auf dem Kamann versucht, sie bestmöglich zu begleiten.
Kammann reist in die Heimatländer seiner Schüler
Doch kann er ihr Schicksal vollends erfassen, ohne ihre Heimat zu kennen? Ohne ihren manchmal beschwerlichen Weg nach Deutschland nachzuvollziehen? Schließlich fasst er einen Entschluss: Er wird auf ihren Spuren reisen, unter anderem in den Iran, nach Armenien, Bulgarien, Kolumbien, Südkorea und Russland. Seine Schüler basteln Reiseführer für ihren Lehrer, geben ihm wichtige Tipps für sein Abenteuer. Die Rollen haben sich vertauscht: Der Lehrer wird selbst ein Jahr wieder zum Schüler werden.
Doch zuvor muss er die 10d noch auf ihre Abschlussprüfungen vorbereiten, die am Ende des Schuljahres alle 30 Schüler bestehen. „Ich ziehe meinen Hut vor der 10d. Wenn ich mir vorstelle, meine Eltern wären mit mir als dreizehnjährigem Teenager in den Iran oder nach Russland gezogen und ich hätte dort mit sechszehn oder siebzehn eine Abschlussprüfung auf Farsi oder Russisch bestehen müssen… Nicht unwahrscheinlich, dass ich kläglich gescheitert wäre. Zum Glück bin ich heute zwanzig Jahre älter und weiß, was ich tue. Es ist Zeit aufzubrechen.“
Vierzig Stunden mit dem Bus nach Bulgarien
Sein erster Trip führt den Lehrer nach Dobritsch in Nordostbulgarien. Dabei fliegt er nicht, sondern fährt – wie seine bulgarische Schülerin Raina – mit dem Bus. Die große Weltreise beginnt am Zentralen Omnibusbahnhof in Hamburg und führt erst einmal in die deutsche Provinz: Etliche Erntehelfer und Bauarbeiter werden in vielen kleinen Ortschaften in Deutschland eingesammelt. Bis der Bus über Österreich und Ungarn und nach einem reparierten Motorschaden schließlich in der bulgarischen Hauptstadt Sofia ankommt, sind mehr als vierzig Stunden vergangenen.
Kammann ist vollkommen gerädert und versteht plötzlich seine Schülerin Raina, die nach den Ferien drei Tage zu spät in die Schule kam und als Entschuldigung ihre „abenteuerliche Rückfahrt mit dem Bus aus Bulgarien“ angab. „Ich weiß jetzt: Ihre Fehlzeiten sind unbedingt zu entschuldigen.“ Der Lehrer selbst braucht – bevor er in den Heimatort seiner Schülerin ins 500 Kilometer entfernte Dobritsch weiterfahren kann – erst einmal eine dreitätige Erholungspause in Sofia.
Unter Frauen in Iran
In Iran, dem Heimatland seines Schülers Bahram, lernt er trotz der Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum die Künstlerin Behnaz kennen, die sich kritisch mit der Verschleierung von Frauen auseinandersetzt. In der Islamischen Republik ein sehr gefährliches Unterfangen. Die Sittenpolizei sorge dafür, dass Behnaz ihre Kunst nicht ausstellen dürfe und im Internet nur unter falschem Namen unterwegs sei, so Kammann. Die Künstlerin erklärt ihm auch die Kleiderordnung für Frauen, die in der Öffentlichkeit Haar und Nacken bedecken müssen.
Während er durch Teheran streift, fällt ihm auf, wie mutig manche Frauen diese Grenzen ausloten: „Beim Anblick eines Mädchens, das ein Iron-Maiden-Shirt trägt, abgewetzte Chucks und einen Nasenring, kombiniert mit einem lax hängenden Schal, denke ich an meine Schüler und ihre oft hilflosen Versuche zu provozieren.“ Denn das sei in Deutschland gar nicht so leicht. „Meinen Kollegen und mir ringt höchstens plötzliche Vollverschleierung eine Reaktion ab, in Iran ist die Wahl der Garderobe im öffentlichen Raum ein Drahtseilakt und ein hochpolitisches Statement, das im schlimmsten Fall körperliche Maßregelung nach sich zieht.“
Ballett tanzen in Südkorea
In Südkorea merkt Kammann, wie sehr seine Schülerin Mi-sun von ihrer Heimat geprägt wurde. Die stets bestens vorbereitete und sehr disziplinierte Schülerin ist Tänzerin im renommierten „Hamburg Ballett John Neumeier“. Gerade Südkoreas Hauptstadt Seoul kommt dem Lehrer in den ersten Tagen vor wie ein Ballett: „Trotz seiner fast siebzehn Millionen Einwohner fühlt die Stadt sich überhaupt nicht an wie eine Megametropole, eher wie ein gut durchchoreografiertes Ensemble, in dem jeder weiß, wo er hingehört“. Die vielen Regeln und Codes irritieren den Lehrer. So gelte es etwa als unhöflich, laut zu lachen oder „Nein“ zu sagen. Direkter Augenkontakt werde als aggressiv interpretiert und Umarmungen seien zur Begrüßung unüblich.
„In Korea wird mir klar, dass Mi-sun in den wöchentlichen Klassenratsstunden, in denen ihre Mitschüler oft mit Nachdruck zwischenmenschliche Probleme wälzten, gelitten haben muss wie ein Hund. Sie saß oft passiv da und beteiligte sich nicht an den Diskussionen.“ Erst in ihrer Heimat habe er verstanden, „dass sie dem gar keine energisch vorgetragenen Argumente entgegensetzen konnte, weil sie aus einer anderen Streitkultur kommt.“
Karneval in Kolumbien
In Kolumbien erkennt Kammann, dass das Land zu Unrecht auf Drogen und Gewalt reduziert wird. Er schippert auf dem Amazonas durch den Regenwald, wandert durch die Gebiete des indigenen Volkes der Kogi, besucht das märchenhafte Mompóx, Inspirationsort für den verstorbenen kolumbianischen Schriftsteller Gabriel García Marquez und feiert tagelang Karneval in Barranquilla – und ist immer wieder überwältigt von der Herzlichkeit der Kolumbianer.
Hier begreift er die Wehmut seiner Schülerin Julia: „Ich weiß noch, wie sehnsüchtig Julia im deutschen Januar aus dem Fenster unseres Klassenraums blickte und sich sehnte nach den Farben, dem Licht und der Wärme in ihrer Heimat, nach den Menschen, die immer und überall draußen sind, die sich nicht vor Schneematsch und Dunkelheit in ihren Wohnungen verstecken müssen. Ich verstehe sie besser denn je und habe das Gefühl, man bräuchte ein ganzes Leben, um all die kolumbianischen Farbspiele und unterschiedlichen Schattierungen auch nur annähernd begreifen zu können.“
Zu gefährlich in Afghanistan
Eine Reise in das Ursprungsland seines Schülers Tanim blieb Kammann allerdings verwehrt. Er spricht mit NGOs, Journalisten und weiteren Kontakten. Tanims Vater überzeugt ihn schließlich, dass die Reise zu gefährlich werden würde. Eines Tages, so der Vater, werde er den Lehrer in sein Heimatland einladen. „Ich wünsche ihm, dass seine Vision von Afghanistan Realität wird, in der er wieder als Bauingenieur Schulen planen kann, ohne dafür mit Waffen bedroht und vertrieben zu werden“, schreibt Kammann.
„Ich habe verstanden, was sie wollen“
Nach der Weltreise auf den Spuren seiner Schüler ist der Lehrer ein anderer. Er versteht sie nicht nur besser, er kann auch viele in ihrer Muttersprache begrüßen. „Für mich ist das noch immer etwas Besonderes, ich bemühe mich aber, die Kids zu behandeln, als wären sie nichts weiter als normale Schüler – denn ich habe verstanden, dass es genau das ist, was sie wollen.“
Zum Weiterlesen:
Jan Kammann: Ein deutsches Klassenzimmer, 30 Schüler, 22 Nationen, 14 Länder und ein Lehrer auf Weltreise, Malik, Piper Verlag, 301 Seiten, 18 Euro.
Jan Kammans Blog: eindeutschesklassenzimmer.com