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Tschechien Tschechien: Durch böhmische Dörfer

Von LOTHAR STEIMLE 01.09.2011, 15:50

Halle (Saale)/MZ. - Als ob der Strom ein bisschen hier verweilen wollte, denkt man sich unwillkürlich, wenn man von der alten Litomericer Brücke auf die Elbe schaut. Im glatten aufgestauten Wasser spiegelt sich der Hausberg Lobosch wider, im Westen steht die Sonne zwischen hohen Uferbäumen, gegenüber ragt der Domturm in den Abendhimmel. Rechter Hand am Brückenkopf wacht die barocke Jesuitenkirche über alles, was da kommt und rüberrollt und - zugegeben - den Abendfrieden etwas stört. Dornröschengärten, Stiegen, enge Gassen ziehen sich hinauf zum Balkon der Stadt mit Theater, Residenz, dem Bischofssitz und, auf dem höchsten Punkt, der Stephanskathedrale, eine unverwechselbare Silhouette, die in den letzten Jahren frischen Glanz bekommen hat. 26 000 Menschen leben in Litomerice, mit deutschem Namen Leitmeritz, ein kleines Oberzentrum in Nordböhmen, wo die Eger in die Elbe mündet. Litomerice war schon immer eine reiche Stadt am Puls des Stroms und mittendrin in einem Landstrich, der wegen seiner Fruchtbarkeit den Beinamen "Böhmisches Paradies" erhalten hat. Zu Schloten und Fabriken hat es nie gereicht.

Welchen Weg man von der Flussseite auch einschlägt, Ankommen in Litomerice fühlt sich nicht viel anders an als vor Dekaden und Jahrhunderten. Früher oder später wird man auf dem großen Marktplatz landen, einem der weitläufigsten in Böhmen. Gotik, Renaissance, Barock und Jugendstil reihen sich in einem Mix der Kunstepochen aneinander, aufpoliert, verspielt, fast liebevoll chaotisch und doch ein großes Ganzes gebend - das Wohnzimmer von Litomerice. Wahrzeichen der Stadt ist der pompöse Kelch auf dem Dach des Bürgermeisterhauses, der bestiegen werden kann und einen schönen Rundblick bietet: auf den weißen Stadtturm in der Ecke mit der Dekanalkirche, gegenüber das Renaissance-Rathaus von 1536, das älteste in Böhmen, und in der Platzmitte die Pestsäule mit den beiden Marktbrunnen.

Man könnte nebenan im "Schwarzen Adler" absteigen, dem besten Haus des Städtchens, das 1566 von Kaiser Maximilian II. zum Rittersitz erhoben wurde. Oder man schlendert durch die Laubengänge und schaut hier und da mal rein, wo's an der Ladentür noch bimmelt. Ein besonders eigenwilliger Ort, böhmische Küche und einen frischen Ruländer aus Litomericer Lagen zu genießen, liegt ebenfalls am Markt: die Weinstube "Radnicni sklípek" reicht tief hinab in die Unterwelt der Stadt, in einen Teil des drei Kilometer langen Stollensystems, das im Mittelalter zur Verteidigung gegraben wurde.

Jenseits des Mauergürtels liegt die Neustadt aus der Kaiserzeit: Nach Wiener Vorbild entstand eine Ringstraße mit Prachtbauten der Donaumonarchie, darunter Post, Kreisamt und Gericht. Bergan, im nächsten "Zwiebelring", scharen sich die stolzen Stadthäuser und noblen Villen.

Die Nebenbahn nach Ceska Lípa (Böhmisch Leipa) schließt das alte Litomerice nach Osten ab. Wer mag, kann von hier mit dem Schienenbus zu einer kleinen Tour durch "Böhmens Hain und Flur" aufbrechen. Das Örtchen Ploskovice (Ploschkowitz) mit dem kaiserlichen Sommerschloss lockt schon nach dem ersten Halt zu einem Zwischenstopp: Um 1720 wurde die dreiflügelige Anlage mit ihrem Park vom Litomericer Barockbaumeister Octavio Broggio erbaut; ab 1849 verbrachte Ferdinand I. Kaiser von Österreich nach seiner Abdankung hier die Sommer. Während das nächste Schlösschen auf der Strecke, Libesice (Libeschitz), noch auf einen Prinzen wartet, überrascht das Städtchen Ustek (Auscha) mit einem Ortskern aus dem Mittelalter. Rechts und links des ansteigenden Marktplatzes, der von einem schmucken Kirchlein abgeschlossen wird, reihen sich kleine Giebelhäuser im Stil der Gotik und Renaissance.

Eine Fahrt nach Litomerice ist mehr als nur Kultur- und Stadturlaub. Zu mächtig und verlockend gibt sich die Landschaft drumherum, die seit alters her das "Böhmische Paradies" genannt wird. Wiesen, Wälder, Hopfenanbau und vor allem Abertausende von Streuobstbäumen ziehen sich bis weit hinein ins Mittelgebirge und tauchen die Höhenzüge im Frühjahr und im Herbst in verschwenderische Farbenpracht. "Böhmische Dörfer" wollen hier erkundet werden: die sprichwörtlichen Kleinen und Versteckten, wo die Zeit ein bisschen stehen blieb, genau so wie die Stolzen mit Burg und Kirche. Himmel, Rübendörfel, Kutteslawitz, Tlutzen, Triebsch, Rzettaun oder Wscheratz heißen sie mit ihren alten deutschen Namen, und die aktuell gebrauchten tschechischen gehen auch nicht leichter von der Zunge. Hier sollte man sich ein, zwei Tage treiben lassen, alle Wege führen irgendwann zur Elbe runter. Wer Auf und Ab nicht scheut, wird mit dem Rad auf Nebensträßchen seine Freude haben.

Weite Blicke in das Land kann man sich auch erwandern, etwa bei einem Streifzug über die Elbhöhen. Ganz entspannt lässt sich das Elbtal auch per Schiff erfahren. Allerdings gehört ein bisschen Glück dazu, denn das Litomericer Ausflugsboot legt nicht alle Tage ab.