Hilfe für die Eltern computersüchtiger Kinder
Frankfurt/Darmstadt/dpa. - Wenn die besten Freunde des Sprösslings Blutelfen, Trolle und Orcs sind, machen sich viele Eltern Sorgen. Denn das Online-Rollenspiel «World of Warcraft», in dem diese Fabelwesen vorkommen, birgt nach Expertenmeinung Suchtgefahr.
Die Kinder sitzen nur noch vor dem Computer, verlassen das Zimmer - wenn überhaupt - zum Essen, die Schule wird abgebrochen und Freunde vernachlässigt. So beschreibt Claudia Kraemer die typischen Anzeichen einer Computerspielsucht. Kraemer ist Leiterin des Selbsthilfebüros Darmstadt der Paritätische Projekte gGmbH und hat die erste hessische Selbsthilfegruppe für Eltern computerspielsüchtiger Kinder ins Leben gerufen.
Eltern stehen vor einem Problem, sagt Kraemer: «Weil Computer und Internet zur heutigen Zeit gehören, können sie sie kaum verbieten. Den Zustand unverändert lassen, wollen und können sie aber auch nicht.» Betroffene Eltern, die Hilfe bei Beratungsstellen suchen, fühlten sich dort allerdings oft nicht verstanden. «Die meisten Berater haben Computerspiele noch nicht als Suchtthema im Fokus», erklärt Kraemer.
Einer, der sich darauf spezialisiert hat, ist Suchttherapeut Horst Witt von der Fachklinik Fredeburg in Nordrhein-Westfalen. Er berät auch die Darmstädter, weil es seiner Aussage zufolge keine ähnliche Einrichtung in Hessen gibt. Witt bemerkt seit Jahren steigende Zahlen betroffener Kinder und Eltern. Denn meist führt das exzessive Spielen zu Konflikten in der Familie. Wenn diese in Aggressionen gipfeln, brauchten beide Parteien entsprechend Ruhe.
Den betroffenen Jugendlichen - in der Regel seien es Jungen in oder nach der Pubertät - empfiehlt er eine stationäre Behandlung, bei der ihnen der Alltag wieder schmackhaft gemacht und nach den Gründen für die Flucht aus der Realität gesucht wird. Sie seien von den Eltern vielmals früh schon mit Fernsehen, Gameboy und Spielkonsolen beruhigt und an diese Medien gewöhnt worden. Aber auch die Eltern sollten sich Unterstützung suchen. Oft vernachlässigten sie ihr eigenes Leben wegen des Stresses mit dem Kind. «Das kann sich sogar bis hin zum Sexualleben auswirken», beschreibt Witt.
Außerdem sieht Kraemer ein Generationsproblem: «Erwachsene sind mit dem Internet nicht immer so vertraut wie Jugendliche.» Sie hätten Angst vor dem freien Zugang zu Gewaltspielen und Pornografie. Als Informationsmedium habe das Internet aber auch viele Vorteile und könne nicht generell verteufelt werden. «Es ist aber wichtig, dass sich Eltern diesem Konflikt stellen und eine Entscheidung treffen», betont Kraemer.
«Kritisch wird es, wenn Eltern das Spielen am Computer verbieten», sagt Witt. Gerade in der Pubertät reize das die Kinder zusätzlich. Zudem flüchteten viele Jugendliche in die virtuelle Parallelwelt, weil ihnen Lob und Anerkennung fehlen. «Die gibt es beim Spielen sehr schnell und sehr einfach», sagt Witt. Von Level zu Level arbeiteten sich die Jugendlichen durch die digitale Welt. In als «Clans» bezeichneten Gruppen werde ihnen zudem ein Gemeinschaftsgefühl vermittelt.
Paradox sei dabei, dass die Clans erfolgreich dasselbe machen, was die Eltern wirkungslos versuchen: Struktur in das Leben bringen. Das klappt vor allem durch Verabredungen zum Spielen. Einer dieser Clans ist der Verein «n!faculty». Der Vorsitzende Frank Pinter sieht in diesen Gemeinschaften, von denen es Tausende in Deutschland mit mehreren Millionen Spielern gebe, auch eine Sicherheitsmaßnahme zum Schutz vor der Sucht: «Gepaart mit einem Elternhaus mit Medienkompetenz und dem Willen der Erziehung, Alternativen für das Kind zu schaffen, sollte es ausreichen, um den Großteil der Spieler vor Suchtfallen zu bewahren», sagt Pinter.
Wenn Eltern jedoch meinen, es gehe nicht mehr, sollten sie sich Hilfe von außen holen, empfehlen Witt und Kraemer. Eine der Anlaufstellen ist das Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe im Main-Taunus-Kreis in Hofheim. Leiter Ralf Pretz weiß, dass die Eltern eher als die betroffenen Jugendlichen kommen. «Es sei wichtig, dass diese auch bei einer Therapie helfen», sagt Pretz. Dennoch nütze das Engagement wenig, wenn die Spieler nicht selbst ihr Verhalten ändern wollen.
Fast jeder sechste Junge, aber nur eines von 23 Mädchen spielt mehr als 4,5 Stunden am Tag am Computer. Das hat eine bundesweite, repräsentative Studie des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) ergeben, die 2009 veröffentlich wurde. Demnach gelten einer internationalen Klassifikation nach 3 Prozent der Jungen und 0,3 Prozent der Mädchen als computerspielabhängig. Weitere 4,7 beziehungsweise 0,5 Prozent gelten als gefährdet.
Laut Studie bestätigte die Untersuchung ein bedeutsames Abhängigkeitspotenzial von Video- und Computerspielen. Dieses sei bei dem Spiel «World of Warcraft» mit deutlichem Abstand am größten. Bei den exzessiven Spielern (mit mehr als 4,5 Stunden pro Tag) gilt sogar jeder Fünfte als abhängigkeitsgefährdet (11,6 Prozent) oder als abhängig (8,5 Prozent).
Befragt wurden 44 610 Schülerinnen und Schüler neunter Klassen in den Jahren 2007 und 2008. Mangels eigener Statistiken verweist auch das hessische Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit, das zuständig für Suchtproblematik ist, auf die Studie.