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Probleme mit Gehhilfe Probleme mit Gehhilfe: Wenn der Rollator zum Risiko wird

Von Magnus Heier 21.06.2015, 13:15
Schienen sind mitunter ein Problem für Menschen mit Rollator.
Schienen sind mitunter ein Problem für Menschen mit Rollator. dpa Lizenz

In Arztpraxen und Restaurants, in Bussen und Bahnen wird der Platz knapp: Immer mehr Ältere kommen mit Rollator. Aber wenn es sein muss, legen viele von ihnen kurze Strecken auch ohne mit erstaunlichem Tempo zurück. Wie die Frau, die einen Bus zu verpassen drohte - und ohne Rollator plötzlich sehr viel schneller am Bus war. Es ist offensichtlich, dass viele der Älteren keinen Rollator brauchen. Warum haben sie ihn dann?

Ein Patient, der beim Arzt über Gangunsicherheit klagt, bekommt nicht selten einen Rollator verschrieben. Nur zur Sicherheit. Außerdem fühlt sich der Patient mit seinem Problem ernst genommen. Und schließlich seien, wie ein Hausarzt unter der Hand sagt, die Rollatoren nicht budgetiert - im Gegensatz etwa zu Krankengymnastik könne er so viele verschreiben, wie er will.

So wird großzügig verordnet: Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) nennt einen Zuwachs der jährlich auf Rezept verschriebenen Rollatoren von 38 Prozent in fünf Jahren. Den stärksten Anstieg verzeichnet die Kasse bei den relativ Jüngeren: bei den 60 bis 69-Jährigen sind die Verschreibungen sogar um 85 Prozent gestiegen. Plus Dunkelziffer, denn Rollatoren kann man günstig und ohne Rezept auch etwa beim Discounter kaufen.

Bei vielen ist der Rollator schlicht ein Missverständnis, wenn er lebenslang genutzt wird: „Wenn sich Patienten etwa die Hüfte gebrochen haben, wird das Gangbild durch den Rollator zunächst meist besser“, sagt Ulrich Lindemann, Sportwissenschaftler am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart. „Allerdings sollte der Rollator bei den meisten Patienten nur vorübergehend eingesetzt werden: Schließlich sollen sie wieder lernen, ohne Rollator zu laufen.“

Entwöhnung ist schwer

Diese Entwöhnung ist aber schwer, oft bleibt der Rollator bis zum Lebensende erhalten. Auch weil es nach kurzer Zeit ohne Rollator schlicht nicht mehr geht. Denn das Gehirn gewöhnt sich an das Gehen mit einer zusätzlichen Stütze, es verlernt das normale Laufen. Die Verletzungsgefahr steigt. „Wer stürzt, kann sich natürlich immer verletzen. Aber wer mit Rollator stürzt, verletzt sich meist schwerer, einfach, weil er durch den Rollator am Abfangen gehindert wird oder in den Rollator hineinfällt“, sagt Lindemann. Auch die US-amerikanische und die britische Gesellschaft für Geriatrie führen die Nutzung von Gehhilfen (und damit auch den Rollator) unter den elf größten Risikofaktoren eines Sturzes.

Es gibt versteckte, aber vermeidbare Sturz-, Schwindel- oder Unsicherheitsursachen: „Häufig hat der Patient Probleme beim Sehen. Oder eine schlecht beleuchtete Wohnung mit Stolperfallen. Oder er nimmt Medikamente ein, die unsicher machen. Oder die Gangunsicherheit wird durch Angst vor Stürzen verstärkt“, sagt Heike Wittenberg, Physiotherapeutin der St.-Mauritius-Therapieklinik in Meerbusch. „In solchen Fällen löst der Rollator das Problem nicht, sondern verdeckt es nur.“

Mobilmachung - Vom Leben mit dem Rollator heißt eine Ausstellung, die noch bis zum 28. Juni im Stadtmuseum Halle zu sehen ist. Gezeigt werden Fotografien von Jochen Ehmke und Norbert Kaltwaßer mit Texten von Maria Nühlen.

Die Ausstellung berichtet über neu gewonnene Freiheiten, über das Alltägliche, über die Behinderungen im öffentlichen Raum, über Abschiednehmen und Erinnerungen, über Selbstbestimmung und Würde. Ein Blick in unsere Gesellschaft, ein Blick in unsere Zeit, ein Blick in die soziale und kulturelle Teilhabe älterer und alter Menschen.

Die fotografische Dokumentation zeigt typische Treffpunkte, zeigt wegsame und unwegsame Orte, zeigt das Mit-sein und das Allein-sein von Menschen mit Rollator. Die Fotografien erzählen Geschichten dieser Menschen.

Stadtmuseum Halle, Große Märkerstraße 70, geöffnet Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr; Telefon: 0345/ 221 30 30; Internet: www.stadtmuseum.halle.de

Meist wäre ein Gleichgewichtstraining besser: Thomas Brandt, Leiter des Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrums in München, empfiehlt bei Gleichgewichtsstörungen statt Rollator ein Training, bei dem die Patienten über die normalen Alltagsleistungen hinaus trainiert werden. Damit soll eine Art Sicherheitspuffer geschaffen werden: „Beim trainierten Patienten sind reflexartige Korrekturen möglich, die aber beim Rollatorgehen verlernt werden“, so Brandt. „Denn nur Herausforderungen verbessern das Gleichgewicht: Jeder von uns kann Seiltanzen - aber das lernt man nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf dem Seil.“

Rollator hat kein Stigma mehr

Stattdessen verlernen viele durch den Rollator schon das normale Gehen. Viele benutzen ihn außerdem falsch, auch weil die Armstützen zu niedrig eingestellt sind. Dadurch zwingen sie den Nutzer zu einer vornübergebeugten Haltung. Und dazu, gleichsam hinter dem Rollator herzulaufen: Der Schwerpunkt liegt zu weit hinten, sie laufen auf Zehenspitzen, die Sturzgefahr steigt weiter. Ellen Freiberger von der Bundesinitiative Sturzprävention warnt: „Betroffene müssten lernen, wie sie mit dem Ding laufen - stattdessen haben sie Minuten nach den kurzen Einführungen meist alles vergessen. Und Bücher über die richtige Benutzung gibt es nur wenige.“

Rollatoren sind häufig - und nicht mehr peinlich: „Der Rollator hat kein Stigma mehr - es ist einfach normal, ihn zu benutzen“, sagt Elisabeth Thomas, Ärztin der DAK-Gesundheit. Entsprechend groß ist die Nachfrage nach attraktiven, oft teuren Modellen. Ulrich Lindemann arbeitet bereits am „intelligenten Rollator“, wie er ihn selbst nennt. „Wir wollen, dass der Rollator auch am Hang nicht zum Risiko wird: Er soll beim Bergaufgehen mit einem Elektromotor beschleunigen - und beim Bergabgehen automatisch bremsen“, so Lindemann. Auch an einem Rollator mit Navigationssystem wird gearbeitet: Er soll Menschen mit beginnender Demenz den Weg nach Hause zeigen - und könnte durch Ortung zeigen, wo sie sind.

Für Ellen Freiberger ist der Rollator eigentlich praktisch, dessen ständige Nutzung aber ein Problem: „Ältere Menschen haben oft nicht mehr die Kraft, Einkaufstüten zu schleppen oder auch nur längere Strecken zu gehen - dafür sind Rollatoren sinnvoll. Aber bitte nur für diese Strecken. Die Menschen müssen lernen, den Rollator nur dort zu benutzen, wo er für sie unverzichtbar ist - und den Rest ohne ihn zu gehen.“