Jugend Jugend: Autoagression als Hilfeschrei

Wiesbaden/dpa. - «Zum Teil sind psychische Erkrankungen wie Depressionen oder dasso genannte Borderline-Syndrom der Grund für dieses Verhalten»,erklärt die Psychologin Annette Böttcher aus Wiesbaden. «Die meistenreagieren damit auf Probleme, Einsamkeit, traumatische Erfahrungenoder Minderwertigkeitskomplexe.»
Manche Mädchen kommen in der Pubertät mit dem sich veränderndenKörper nicht zurecht. «Selbsthass führt dann oft zur Zerstörungswutgegenüber dem eigenen Körper», erläutert Böttcher. Bei Arina ausGöttingen war das so. Als sie sich das erste Mal mit dem Messer inden Arm schnitzte, war sie unglücklich verliebt. Sie dachte, sie wärenicht schön genug für den Jungen, der ihre Liebe nicht erwiderte.«Ich hasste mich. Und plötzlich schoss mir ein sehr klarer Gedankedurch den Kopf: Ich muss mein eigenes Blut sehen, um mich für meineMängel zu bestrafen», sagt Arina.
Auch Alexandra aus Berlin wollte sich bestrafen, als sie mit 16versuchte, sich den Arm zu brechen. Sie hatte sich mit ihrenFreundinnen gestritten und schuldig gefühlt: «Ich weiß noch, dass ichvorher sehr aufgewühlt war, unruhig und verzweifelt.» Sie habe dasBedürfnis danach gehabt, sich selbst zu bestrafen und wohl irgendwieauch die Hoffnung, durch ein Unglück wie den Gipsarm wieder gemochtzu werden.
Oft bleibt es nicht bei einer einmaligen Selbstverletzung: «EineWunde ist wie ein Ventil, durch das der innere Druck abgelassenwerden kann», erklärt Alexandra. Der Zustand der Ruhe undSorglosigkeit, der im Moment der Verletzung auftreten kann, machtmanche süchtig. Auch Alexandra machte aus der «Notlösung» bald eine«allgemeine Problemlösung». Und Arina ging irgendwann nicht mehr ohneRasierklinge aus dem Haus: «Ich verlor immer mehr die Fähigkeit, mitProblemen umzugehen, wie normale Menschen.»
Vor Freunden und der Familie versuchen die Selbstzerstörer ihreWunden und Narben zu verstecken. Sie werden erfinderisch, reden vonkratzenden Katzen oder einem Treppensturz. Line Keller, die mit «RoteLinien» eine Webseite für SvV-Angehörige betreibt, hat sich am Anfangüber die Narben ihrer Tochter gewundert. Erst als sie sie daraufansprach und das 13-jähige Mädchen wütend aus dem Zimmer rannte,ahnte die Mutter, dass da was nicht stimmte: «Aber von dieserKrankheit SvV hatte ich damals noch nichts gehört.» Die Mutterschaffte es zwar, die Tochter zu einer Therapie zu bewegen, nichtaber, mit ihr über ihr Verhalten zu reden.
Auch Alexandra hat eine Therapie gemacht. Heute geht es ihrbesser, sie hat gelernt, mit depressiven Stimmungen umzugehen undweiß, womit ihr Verhalten womöglich zusammenhängt: Mit 15 Jahrenwurde sie sexuell missbraucht, später terrorisierte sie einEx-Freund. Arina macht seit drei Jahren eine Therapie. Der Weg zumArzt oder Therapeuten ist laut Böttcher unerlässlich. Nicht seltenführt der Ritz am Unterarm zum Schnitt an den Pulsadern. Auch Arinahat oft an ihre «vollständige Vernichtung» gedacht.
«80 Prozent der Jugendlichen, die einen Suizid begehen, habenzuvor schon Erfahrung mit SvV gemacht», erklärt Böttcher. Für mancheBetroffene sind die Selbstverletzungen eine Phase: «Viele fangen mit13 Jahren an, und hören spätestens mit 16 wieder damit auf.» Doch vonallein, so glaubt Alexandra, hören die wenigsten mit SvV auf: «Mansollte sich jemanden anvertrauen und nicht alles in sichhineinfressen».
Thomas aus Marburg, der ebenfalls Erfahrungen mit SvV gemacht hat,empfiehlt Gespräche mit Außenstehenden: «Die haben im Vergleich zuden Eltern den Vorteil, dass sie unbelastet sind. Das Verständnisfällt dann leichter.» Ihm haben aber auch die Diskussionen imInternet geholfen, unter anderem unter www.kummernetz.de.
Das engere Umfeld reagiert meistens schockiert und hilflos auf dieblutige Sucht. «Unterstützung durch Freunde ist immens wichtig, aberimmer ein Spagat», sagt Alexandra. «Freunde sollten keine Ultimatensetzen oder Versprechen abnehmen, dass sich der Betroffene nicht mehrverletzten wird.» Das kann gewaltig nach hinten losgehen, da SvV alsVentil vielleicht auch Schlimmerem vorbeuge. Auch Arina findet denDruck durch Freunde problematisch: «Erpressungen, egal wie gut siegemeint sein mögen, führen nur dazu, dass man sich noch mehrzurückzieht oder die Verletzungen an Körperstellen verlagert, die dieanderen nicht so leicht wahrnehmen.»
Freunde sollte daher die Verletzungen akzeptieren, aber derenHintergründe hinterfragen, meint Alexandra. «SvV ist nur ein Symptomdafür, dass etwas anderes nicht stimmt.» Redebereitschaft zusignalisieren, wäre ein guter Anfang.