Plötzlich ist es still Hörsturz: Mediziner aus Halle suchen nach optimaler Therapie für Patienten

Halle (Saale) - Heinz Krüger (Name geändert) ist einiges an Lärm gewöhnt. Der Rentner lebt in Halle an einer verkehrsreichen Ausfallstraße. Um wenigstens nachts Ruhe zu finden, verwendet er Ohropax. Früh, wenn der 69-Jährige die Ohrstöpsel herausnimmt, wird es um ihn herum wieder laut. Eigentlich. Denn eines Morgens blieb es still. „Ich habe gemerkt, dass ich auf dem linken Ohr nichts mehr höre“, erzählt er.
Der Rentner maß dem zunächst keine große Bedeutung bei. Seine Vermutung, dass Ohrenschmalz den Gehörgang verstopft hatte, erwies sich jedoch als falsch. Der Ohrenarzt diagnostizierte einen Hörsturz und überwies seinen Patienten umgehend an die Universitätsklinik in Halle. Hier wurde Heinz Krüger zu einem Studienobjekt. Denn sein Arzt, Professor Stefan Plontke, initiierte und leitet eine deutschlandweite klinische Studie zur Hörsturz-Therapie. Sie startete im Herbst des vergangenen Jahres, soll fünf Jahre lang und in 40 Studienzentren laufen.
Hörsturz: Ursachen bleiben meist unbekannt
150.000 Menschen erleiden in Deutschland jährlich einen Hörsturz. „Das ist die plötzliche Verschlechterung oder der plötzliche Verlust des Hörens in der Regel auf einem Ohr“, erläutert der Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Häufig komme ein störendes Geräusch oder ein Druckgefühl hinzu. Einige Patienten klagten auch über Schwindel, denn im Ohr sitze ja das Gleichgewichtsorgan.
Obwohl die Krankheit sehr verbreitet ist, wissen die Mediziner wenig über ihre Ursachen. „Wir vermuten, dass es sich um eine Durchblutungsstörung im Innenohr handelt“, sagt Plontke. Zwar sei das kein medizinischer Notfall. Aber Betroffenen rät er doch, sich innerhalb von zwei Tagen an einen Fachmann zu wenden. Schließlich könne hinter den Symptomen auch eine schwere Erkrankung, etwa ein Tumor an den Hörnerven, stecken.
Schwer oder nicht. Für die Patienten ist ein Hörsturz in jedem Fall ein sehr belastendes, ja oftmals beängstigendes Ereignis. Heinz Krüger erzählt, dass er auf der Straße nicht mehr orten konnte, aus welcher Richtung die Straßenbahn kommt. Im Theater habe er das Gefühl gehabt, hinter der Bühne zu stehen. Schaltete er das Radio ein, klang die Musik so, als dringe sie aus dem Nebenraum durch eine geschlossene Tür zu ihm. „Und bei Unterhaltungen mit mehreren Personen wurde es ganz schwierig. Da musste ich mich schon sehr konzentrieren, um dem Gespräch folgen zu können“, sagt er.
Dosierte Kortison-Behandlung bei Hörsturz
Plontke unterstreicht, dass Menschen, die einen Hörverlust erleiden, im privaten wie im beruflichen Leben extrem eingeschränkt sind. Es bestehe die Gefahr, bestimmte Tätigkeiten nicht mehr ausüben zu können. Er zitiert den Philosoph Immanuel Kant, der die Auswirkungen auf den Punkt gebracht hat: „Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören trennt von den Menschen.“
Umso wichtiger sei es, den Betroffenen eine wirksame Behandlung anbieten zu können. Bisher erhalten betroffene Patienten hoch dosiertes Kortison. Was der Studie übrigens auch ihren Namen gibt - Hodokort. Die Kortisonpräparate sollen die Symptome lindern. „Es spricht viel dafür, dass das den Kranken hilft“, sagt Plontke. „Wissenschaftlich ausreichend gesichert ist es aber nicht.“ Auch die optimale Menge des verabreichten Wirkstoffs sei bisher nicht bestimmt. Deshalb jetzt die wissenschaftliche Arbeit, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.
Alle Studienteilnehmer bekommen - wie üblich - zehn Tage lang ein Kortisonpräparat. Unterschiedlich ist lediglich die Dosierung. Einigen Patienten wird die internationale Standarddosis verabreicht, anderen die, die in Deutschland üblich ist und höher liegt. „Wir wollen so herausfinden, welche Wirkstoffmenge die optimale ist“, erläutert Plontke. Darüber hinaus gehe es auch um die Frage, wie sich die Dosierung auf Blutdruck und Blutzucker auswirke. Deshalb habe die Studie einen interdisziplinären Ansatz. Die mitwirkenden Internisten interessierten sich brennend für die Ergebnisse.
Die Studie hat noch eine weitere Facette. Bisher injizieren Ärzte das hoch dosierte Kortison in die Vene des Erkrankten. Nun untersuchen sie, ob Tabletten vielleicht die gleiche oder gar eine bessere Wirkung erzielen. Sollte das der Fall sein, bliebe den Patienten die unangenehme Piekserei und die täglichen Arztbesuche dafür in Zukunft erspart. Um zu unverfälschten Ergebnissen zu kommen, wissen übrigens weder Patienten noch Wissenschaftler, wer welche Medikamentendosis auf welchem Einnahmeweg erhält. Erkrankte, die das Kortison in Tablettenform einnehmen, bekommen daher zusätzlich eine wirkstofffreie Injektion.
Plontke schätzt, dass bisher etwa 50 Prozent der behandelten Patienten ihr Hörvermögen vollständig wiedererlangen. Bei der anderen Hälfte bleibe ein Hörverlust. Ein Viertel der Betroffenen brauche am Ende entweder ein Hörgerät oder ein sogenanntes Cochlear-Implantat, eine Hörprothese, mit deren Hilfe der Hörnerv direkt stimuliert wird und die bei Ertaubung nach Hörsturz zu besonders guten Ergebnissen bezüglich des Sprachverstehens führt.
„Das sind schon gute Lösungen“, sagt Plontke. „Aber natürliches Hören ist allemal besser“, betont er. Am Ende sei es Sinn und Zweck der Studie, dieses noch mehr Patienten als bisher zurückzugeben. Zumal die Sache auch einen volkswirtschaftlichen Aspekt habe. „Allein das Cochlear-Implantat kostet 20 000 Euro“, sagt der Arzt. „Die können durch eine optimal dosierte Tabletten-Therapie möglicherweise gespart werden.“
Rauchen aufgegeben um einen Hörsturz zu vermeiden
Natürlich weiß auch Heinz Krüger nicht, welche Medikamentendosis er auf welchem Weg erhalten hat. Aber die Therapie hat angeschlagen. Er hört wieder so wie früher. Das sei ein schleichender Prozess gewesen, erzählt der Rentner. Wenn ein Lkw vorbeifuhr, sei der anfangs durch ein Knistern im Ohr zu hören gewesen. „Ich spürte, dass sich da wieder etwas regte, dass da wieder etwas lebte.“ Fortan habe er sich immer, wenn er in der Küche war, das gesunde Ohr zugehalten und gewartet - bis er eines Tages das Ticken des Sekundenzeigers der Küchenuhr auch auf der kranken Seite vernahm. Als es soweit war habe er gewusst: Du bist gesund.
Angst, dass ihn so ein Hörsturz ein zweites Mal ereilt, die plagt Heinz Krüger nicht. Aber er hat eine wichtige Schlussfolgerung gezogen - aufgehört zu rauchen. Wegen der Durchblutung. „Kann doch sein“, meint er, „dass der Hörsturz die Quittung für die ungesunde Lebensweise war.“ Und wenn Professor Plontke diesen Zusammenhang auch nicht beweisen kann, so sagt er doch: „Das war so oder so eine gute Entscheidung.“