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Arm nach Arbeitsunfall entfernt Handprothese nach Amputation: Hightech-Prothese am Bergmannstrost in Halle

Von Bärbel Böttcher 21.08.2018, 13:53
Sascha Mrongowius hat sich schnell an seine Hightech-Armprothese gewöhnt.
Sascha Mrongowius hat sich schnell an seine Hightech-Armprothese gewöhnt. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - „Ich habe eine gefühlte Ewigkeit geschrien, einfach nur geschrien“, sagt Sascha Mrongowius. Als der 34-Jährige von seiner Frühschicht am 17. März 2017 erzählt, muss er häufig schlucken. Es sind schlimme Erinnerungen.

Der Mann ist Schichtleiter in einer Produktionsanlage, in der Müll zu Brennstoff verarbeitet wird. An jenem Morgen fällt der sogenannte Nachzerkleinerer, eine Art Schredder, immer wieder aus.

Gegen 8.45 Uhr stellt der Maschinist ihn schließlich auf Wartung. Er kontrolliert, ob der Motor warm ist. Dabei passiert es. „Irgendwie muss ich zu nah an die Keilriemenscheibe gekommen sein“, erzählt er. Es gibt einen kurzen Ruck. Sein linker Arm hat sich in der noch laufenden Antriebseinheit verfangen.

Amputation des linken Unterarms nach Arbeitsunfall

Seine Hilfeschreie hört zunächst niemand. Es ist laut in der Halle. Irgendwie schafft es Sascha Mrongowius, an den Notaus-Schalter zu kommen. Die Anlage steht. Ein Arbeitskollege zieht ihn aus der Maschine, leistet Erste Hilfe.

Der herbeigerufene Notarzt verbindet die Wunde, verabreicht etwas gegen die wahnsinnigen Schmerzen. Dann geht es auf schnellstem Weg in das Berufsgenossenschaftliche Klinikum Bergmannstrost in Halle.

Die Ankunft in der Notaufnahme bekommt Sascha Mrongowius noch mit. Dann verliert er das Bewusstsein. Als er Stunden später nach einer Operation wieder zu sich kommt, wird das zur Gewissheit, was ihm beim Anblick seiner Verletzungen eigentlich schon klar war: die linke Hand und ein Teil des Unterarmes sind verloren.

„Da habe ich erst einmal geheult“, sagt er. „Für mich ist eine Welt zusammengebrochen.“ Seine Gedanken kreisen um die eine Frage: Wie geht es jetzt weiter? In dieser Situation stehen ihm nicht nur seine Freundin, die Familie und die Arbeitskollegen bei.

Moderne Handprothese am Bergmannstrost in Halle

Auch das Ärzteteam um Professor Frank Siemers, Direktor der Klinik für Plastische und Handchirurgie am Bergmannstrost, macht ihm von Anfang an Mut. Schon bei den ersten Visiten erklären  sie ihm, was durch moderne Handprothesen heutzutage alles möglich ist.

Doch für eine prothetische Versorgung müssen zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden. In einigen Fällen wird der Stumpf, salopp gesagt, auf die optimale Länge gebracht. Im Falle von Sascha Mrongowius heißt das: Es wird nachgekürzt. Und dann muss die Wunde heilen. Damit die Schwellung zurückgeht, wird der Stumpf zudem mit einem Kompressionsverband versorgt. Eine umfangreiche Reha beginnt. Ziel ist es unter anderem, vorhandene Muskeln im linken Arm wieder aufzubauen und zu kräftigen.

Myoelektrische Unterarmprothese durch elektrische Spannung gesteuert

Es dauert gute vier Monate, bis der Gröbziger (Anhalt-Bitterfeld) zum ersten Mal selbst spürt wie es ist, eine Prothese zu tragen. In einem Leipziger Zentrum startet eine Testphase. Dabei soll herausgefunden werden, mit welcher Art Prothese er gut zurecht kommt, welche am besten zu ihm passt, welche ihm gefällt.

Das ist schließlich ein Hightech-Gerät, eine sogenannte myoelektrische Unterarmprothese. „Myo“ ist das griechische Wort für Muskel. Und die Prothese wird, vereinfacht gesagt, durch elektrische Energie, die aus Muskelkraft gewonnen wird, angetrieben.  

„Die Steuerung myoelektrischer Prothesen erfolgt über Elektroden“, erklärt Orthopädietechnikermeister Tilo Salewski. „Diese sitzen im Schaft der Prothese, haben somit Kontakt zum  Armstumpf.“ Nun entstehe im menschlichen Körper bei jeder Muskelbewegung elektrische Spannung. Sie liege zwar nur im Mikrovolt-Bereich, sei aber auf der Haut messbar. Diesen Vorgang, der auch in den noch vorhandenen Muskelgruppen im Armstumpf abläuft, machen sich Prothesenbauer zunutze.

„Die geringe Spannung wird - verstärkt durch die Elektroden - als Signal an die Elektronik der Prothese weitergegeben. Dadurch öffnet sich beispielsweise die Hand“, sagt der Geschäftsführer der orthopädischen Werkstatt „Salewski & Partner“ in Halle. Damit das klappt, wird bei jedem einzelnen Patienten vorher aufwendig getestet, wo genau die Elektroden sitzen müssen.

Richtiger Umgang mit Hightech-Prothese erfordert viel Übung

Zudem erfordert es viel Übung, herauszufinden, welche Muskelgruppe angesteuert werden muss, damit sich die künstliche Hand beispielsweise öffnet, schließt oder damit sich einzelne Finger bewegen. Ergotherapeuten helfen dabei. „Es gibt aber Patienten, die fühlen sich damit überfordert“, sagt Tilo Salewski. Andere brauchten zumindest bei ihrer Arbeit etwas Robusteres. Für sie gebe es mechanische Prothesen, die mit Hilfe eines Seilzugs oder von Bandagen funktionierten. Auch der Captain-Hook-Haken sei da mitunter noch gefragt. Und manch einem reiche eine passive Armprothese, die  rein ästhetische Funktionen erfülle.

Sascha Mrongowius trägt seine Hightech-Prothese seit dem Oktober des vergangenen Jahres. „Ich habe mich schnell daran gewöhnt, ich bin ein echter Technik-Freak“, sagt er. Und liefert sofort den Beweis. Gekonnt hält er mit der künstlichen Hand ein ziemlich weiches Portionsstückchen Butter. Ohne es zu zerquetschen.

Er kann Schleifen binden - etwa an seinen Arbeitsschuhen. Oder wenn ein Geschenk verpackt werden muss. Trotzdem vermisst er wie viele andere Prothesenträger seinen Tastsinn. Er spürt nicht, was er macht. „Die Hand ist blind“, sagt Frank Siemers.

Mikrochirurgie eröffnet Medizin neue Horizonte

Der renommierte Handchirurg verweist darauf, dass die Möglichkeiten „das wichtigste Werkzeug des Menschen“ zu erhalten, mit der Einführung der Mikrochirurgie viel besser geworden seien. Dank OP-Mikroskop und feinstem Nahtmaterial könnten kleinste Nerven und Gefäße wieder hergestellt werden. Auch bei sogenannten Replantationen, also dem Wiederanfügen abgetrennter Finger und ganzer Hände. Manchmal aber ergebe das keinen Sinn. „Dann müssen wir amputieren. Und dann ist es unser Ziel, dem Patienten mit prothetischem Ersatz doch eine weitestgehend  gute Handfunktion zu verschaffen“, betont Frank Siemers.

Bei Sascha Mrongowius ist das gelungen. Übrigens - der Mittdreißiger geht mit seiner Hightech-Hand sehr sorgsam um. Im Krankenhaus habe ihn ein Arzt mit der Aussicht getröstet: Wir machen aus Ihnen einen Sechs-Millionen-Dollar-Mann. Der Mediziner nahm Bezug auf eine Fantasy-Serie aus den USA, in der ein Pilot nach einem Absturz mit entsprechend teuren Körper-Ersatzteilen versorgt wurde.

Sascha Mrongowius möchte Hightech-Prothese nicht mehr missen

Nun, so viel hat die Unterarm-Prothese nicht gekostet. „Aber ich trage so zirka 75.000 Euro am Arm“, sagt Sascha Mrongowius. Kosten, die Krankenkassen oder wie in seinem Falle die Berufsgenossenschaften tragen. Bereits im Februar dieses Jahres ist er übrigens an seinen alten Arbeitsplatz zurückgekehrt. Und dort nimmt er die Prothese ab, um die Elektronik unter anderem vor Staub zu schützen. Denn der ist für sie genauso schädlich wie Wasser. Demnächst bekommt der Maschinist einen weniger empfindlichen Greifer. Nur für die Arbeit. In der Öffentlichkeit möchte sich mit solch einem Gerät kaum mehr jemand sehen lassen.

Auch so zieht Sascha Mrongowius viele Blicke auf sich. Anfangs habe ihn das gestört. Inzwischen sei er daran gewöhnt. Mitunter wäre es ihm lieber, die Menschen, die da so schauen, würden ihn ansprechen, Fragen stellen. Sicher, er könnte sich für die Prothese einen hautfarbenen Silikonüberzug anfertigen lassen. Dann fiele sie nicht so auf. Doch das will er nicht. Er steht zu ihr. „Auslöschen lässt sich die Erinnerung an den 17. März 2017 sowieso nicht.“ (mz)