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Durchs Schlüsselloch Durchs Schlüsselloch: In Coswig werden Herzklappen ohne Brustkorb-Öffnung eingesetzt

Von Bärbel Böttcher 01.11.2018, 05:00
Die Ärzte Harald Hausmann (rechts) und Tom Giesler (links) erklären ihrem Patienten Dietmar Gericke im modernen Hybrid-OP, wie das Herz des Menschen funktioniert und die Herzklappen-Operation abläuft.
Die Ärzte Harald Hausmann (rechts) und Tom Giesler (links) erklären ihrem Patienten Dietmar Gericke im modernen Hybrid-OP, wie das Herz des Menschen funktioniert und die Herzklappen-Operation abläuft. Andreas Stedtler

Coswig - Die Schmerzen hätten es gerechtfertigt, sofort den Notarzt zu alarmieren: Dietmar Gericke verspürt „einen Riesendruck auf dem Brustkorb“. Doch der Kemberger erträgt ihn tagelang, bevor er Hilfe im MediClin Herzzentrum Coswig im Landkreis Wittenberg sucht.

Verursacht werden seine Beschwerden durch verengte Blutgefäße. Der Kardiologe, der die Diagnose stellt, will den Mann sofort in der Klinik behalten. Doch der lehnt ab. Als Inhaber einer Elektrofirma muss er zunächst sicherstellen, dass alle Aufträge ordnungsgemäß abgearbeitet werden. Erst 14 Tage später lässt er sich behandeln. Danach ist Dietmar Gericke schmerzfrei. Doch seine Gefäßerkrankung lässt sich nicht stoppen. Das Herz des heute 73-Jährigen gerät immer wieder in Gefahr.

Dietmar Gericke musste mehrfach am Herzen operiert werden

Und so folgen dem ersten Klinikaufenthalt weitere. Ihm werden sogenannte Stents eingesetzt, Gefäßstützen, die nach der Erweiterung die vormals verkalkten Gefäße offen halten sollen. Kurze Zeit später steht eine Bypass-Operation an. Dabei bauen die Ärzte quasi künstliche Umgehungsstraßen für das Blut. Es muss sich nicht mehr durch die Engstellen in den Gefäßen quälen.

Danach hat der Kemberger eine Weile Ruhe - bis 2015 bei einer Nachuntersuchung Kalkablagerungen auf einer Herzklappe, genauer gesagt auf der Aortenklappe, festgestellt werden. „Es ist eine von vier Herzklappen im menschlichen Körper. Sie alle sorgen dafür, dass das Blut in die richtige Richtung fließt“, sagt Dr. Tom Giesler, Chefarzt der Kardiologie am Herzzentrum. „Die Aortenklappe ist dabei das Ventil zwischen dem Herzen und der Hauptschlagader“, ergänzt Dr. Harald Hausmann, Chefarzt der Herzchirurgie und ärztlicher Direktor der Klinik. „Das heißt verkürzt gesagt: Das gesamte sauerstoffreiche Blut, das aus der linken Herzkammer herausgepumpt wird und alle Organe versorgt, muss durch sie hindurch.“ Sei sie verengt, gebe es Probleme mit der Durchblutung, etwa des Gehirns.

Herzklappenfehler können lebensbedrohlich sein

„Vielen Betroffenen wird schwarz vor Augen, sie verlieren immer mal wieder das Bewusstsein“, erklärt der Herzchirurg. Auch Atemnot oder eine sinkende Belastbarkeit könnten Anzeichen einer Aortenklappenstenose, so der medizinisch korrekte Begriff, sein. „Wird der Herzklappenfehler nicht behoben, kann der Patient den plötzlichen Herztod sterben“, betont er.

Das will Dietmar Gericke nicht. Also folgt er dem Rat der Ärzte und lässt sich operieren. Auch wenn er, wie er sagt, kaum etwas von der Erkrankung gespürt habe. Lediglich sein Blutdruck sei stark erhöht gewesen. „Und bei völliger Ruhe war ein Pfeifton, der vom Herzen ausging, zu vernehmen.“ Zeichen dafür, dass sich die Herzklappe nicht richtig öffnet.

Wunsch des Patienten - keine Öffnung des Brustkorbes bei der Herzklappen-OP

Der Eingriff findet im September 2015 statt. Einen Wunsch hat der Firmenchef dabei. Er möchte nicht, dass der Brustkorb geöffnet wird und eine Herz-Lungen-Maschine zum Einsatz kommt - so wie seinerzeit bei den Bypässen. Damals war er durch die große OP-Wunde ein dreiviertel Jahr außer Gefecht gesetzt, konnte in seiner Firma nicht wie gewohnt zupacken. Das sollte sich nicht wiederholen.

Als Alternative kommt für Dietmar Gericke ein Herzklappenersatz mittels Katheter in Frage, eine sogenannte Tavi - sprich: eine Transkatheter-Aortenklappen-Implantation. Dabei wird eine biologische Ersatzklappe, das Material stammt von Schweinen oder Rindern, in zusammengefaltetem Zustand per Herzkatheter von der Leiste aus über eine Arterie an die richtig Stelle transportiert und dort entfaltet.

Schlüsselloch-OP am Herzen ist vergleichsweise junges Verfahren

Es ist ein vergleichsweise junges Verfahren. Die Schlüsselloch-Technologie kam 2003 in Genf erstmals zum Einsatz. Erst seit 2007 wird sie in größerem Ausmaß genutzt. Seit 2009 wenden es die Coswiger an. Von Jahr zu Jahr häufiger. In diesem Jahr wird die OP-Bilanz etwa 200 solcher Eingriffe ausweisen.

Vorbehalten ist die Methode derzeit Menschen jenseits der 75. So sieht es der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Dass dem Wunsch Dietmar Gerickes - er ist zu diesem Zeitpunkt erst 70 Jahre alt - entsprochen werden kann, hat ausschließlich medizinische Gründe.

Schlüsselloch-OP am Herzen - Altersgrenze darf selten unterschritten werden

Ausschlaggebend sind seine vorherigen Operationen. „Deren Erfolge, sprich: die intakten Bypässe, wären bei einer erneuten Öffnung des Brustkorbes gefährdet gewesen“, sagt Tom Giesler. In solchen Fällen wie auch bei schweren Nebenerkrankungen genehmigten die Kassen das Verfahren auch bei Jüngeren. Ansonsten sei - Wunsch hin oder her - die offene OP angezeigt, bei der auch mechanische Klappen aus Carbon zum Einsatz kommen.

Dabei bietet die minimalinvasive Variante einige Vorteile. Dass den Patienten beim kathetergestützten Klappenersatz die große OP-Wunde erspart bleibt, ist nur einer davon. Herzchirurg Hausmann nennt weitere: „Wir implantieren Katheterklappen zu 98 Prozent ohne Vollnarkose“, sagt er. Die Patienten bekämen lediglich ein Schmerz- sowie ein leichtes Schlafmittel. So könnten sie in der Regel 24 Stunden nach dem Eingriff wieder aufstehen. Was die Gefahr banne, durch langes Liegen eine Lungenentzündung zu entwickeln.

Schlüsselloch-OP am Herzen birgt noch höheres Risiko

Natürlich - wie jede OP - birgt auch der kathetergestützte Herzklappenersatz Risiken. Der Herzchirurg erklärt, dass das Gefäß, in das der Katheter eingeführt wird, ja genauso alt wie das Herz sei, dass es darin Verkalkungen gibt und so die Gefahr besteht, es zu verletzen. Auch andere schwerwiegende Komplikationen, die auf den altersbedingten schlechten Zustand der Gefäße und des Herzens zurückgeführt werden könnten, seien denkbar.

Genau das ist der Grund, warum es Vorschrift ist, dass auch bei diesem Verfahren die Kardiologen nicht allein am Tisch stehen, sondern Herz- und Gefäßchirurgen sowie Herz-Lungen-Maschinen vor Ort sind. Überhaupt darf der Eingriff nur in Kliniken vorgenommen werden, die eine Herzchirurgie vorhalten.

Schlüsselloch-OP am Herzen ist deutlich teurer und kaum erforscht

Deutschlandweit, so sagt Harald Hausmann, liege die Sterblichkeit bei etwa fünf Prozent. In Coswig seien es vier. „An den Folgen einer offenen OP sterben nur zwei Prozent der Patienten. Aber da fließen in die Statistik viele jüngere ohne Nebenerkrankungen ein“, fügt er hinzu.

Wäre es denn wünschenswert, künftig alle Patienten kathetergestützt zu operieren? Dagegen spreche zunächst einmal der Preis. Ein herkömmlicher Eingriff kostet etwa 15.000 Euro. Das neue Verfahren schlägt mit 30.000 Euro zu Buche. Es sei unter anderem dieser Kostenunterschied, der es notwendig mache, für die Kathetermethode bestimmte Voraussetzungen festzulegen, sagt Hausmann.

Mediziner brauchen noch Langzeiterfahrung mit der neuen Methode

Doch auch wenn der finanzielle Aspekt außer Acht gelassen werde, sei es zu früh, diese Methode auch für Jüngere unter allen Umständen zu bevorzugen, betonen beide Mediziner. Es fehle im Unterschied zur offenen Chirurgie die Langzeiterfahrung. Etwa was die Haltbarkeit der auf diese spezielle Weise eingesetzten Herzklappen angehe. Niemand wisse heute, welche Ergebnisse es da in 20 Jahren gebe. „Wir können auf etwa acht Jahre zurückblicken“, sagt Tom Giesler. Deshalb gebe es eine intensive wissenschaftliche Begleitung.

Dietmar Gericke lebt nun drei Jahre mit der neuen Herzklappe. Er fühle sich belastbar. Und auch wenn sein Sohn mittlerweile in die Firma eingestiegen ist, Ruhestand sei kein Thema. Den Ratschlag, Stress zu reduzieren, den habe er nach der OP beherzigt. „14 Tage lang. Dann ging es wieder in die Vollen“, sagt der Chef.

Texte und Videos unter www.mz.de/spitzenmedizin