Zähneknirschen Aktives gesundes Sachsen-Anhalt, Teil 39: Zähneknirschen - was steckt hinter Schmerzen im Kiefergelenk?

Halle (Saale) - Kopfschmerzen und Migräne. Schmerzen in den Schläfen, im Gesicht, im Nacken- oder Schulterbereich. Dazu Schwierigkeiten, den Mund zu öffnen und zu kauen. Das Kiefergelenk knackt. Die Zähne zeigen ob des ständigen Knirschens Abnutzungserscheinungen. Und vor allem - sie passen nicht mehr richtig aufeinander. Patienten mit solchen Beschwerden sieht Dr. Jeremias Hey, Oberarzt an der Universitätszahnklinik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, regelmäßig. Sie kommen in seine CMD-Sprechstunde. CMD steht für „craniomandibuläre Dysfunktion“. „Unter diesem sehr weitgreifenden Begriff werden zahlreiche Krankheitsbilder zusammengefasst“, sagt Hey. Sie alle betreffen das Kauorgan - das „craniomandibuläre System“, wie der Fachbegriff lautet. Doch was steckt dahinter? Und wie kann den Betroffenen geholfen werden?
Verursacht das Kiefergelenk die Beschwerden der Menschen?
„Die Patienten haben oftmals keine Kiefergelenk-, sondern zumeist Muskelschmerzen“, sagt Hey. Die von den Betroffenen beschriebenen Schmerzareale seien oftmals recht groß, eher untypisch für Kiefergelenksschmerzen. „Diese treten eher punktförmig auf. Und sie sind sehr, sehr selten“, fügt der Zahnarzt hinzu. Denn die Gelenkflächen seien nervenfrei. Was von Mutter Natur klug eingerichtet wurde. Entsprechende Nerven würden durch die Kaubewegungen sonst ja ständig gereizt. Mitunter gebe es eine altersbedingte Kiefergelenksarthrose.
„Das Gelenk verändert sich“, erklärt der Mediziner. Aber mit einer Arthrose wie beispielsweise im Knie sei dies vor allem in den zu erwartenden Folgen nicht vergleichbar. „Denn das Kiefergelenk hat - eben im Unterschied zum Kniegelenk - die Fähigkeit, sich zu regenerieren.“ Obgleich eine Kiefergelenksarthrose während der Umbauvorgänge mitunter schmerzhaft sein könne, sei eine Versteifung des Gelenkes nicht zu erwarten. Ginge es vollständig kaputt, dann könnten wir nicht mehr essen und schlucken. Beides sei aber die absolute Grundvoraussetzung für das Leben. „Übrigens - in der Geschichte der Medizin“, so unterstreicht Hey, „sind trotz der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen, die mit einer Vielzahl an Verletzungen im Gesichtsbereich einhergingen, keine Fälle beschrieben, in denen Menschen aufgrund von Kiefergelenkversteifungen gestorben wären.“
Die Patienten klagen darüber, dass ihre Zähne nicht mehr richtig aufeinanderpassen. Löst eine entsprechende Korrektur ihr Problem?
„So lautet eine Grundüberlegung“, sagt Hey. Und deshalb seien in den vergangenen 30, 40 Jahren unglaublich viele Apparate und Behandlungsideen entwickelt worden, die mit hohem zahnärztlichen und zahntechnischen Aufwand einhergingen, um Patienten zu korrekt passenden Zähnen zu verhelfen. Zugleich verweist er aber auf Analysen, nach denen vor allem Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren von diesen Schmerzen betroffenen seien. „Und die haben durchaus nicht alle schiefe Zähne“, betont er. Auf der anderen Seite gebe es Menschen, bei denen im Mund überhaupt nichts aufeinander passe. Und die seien völlig schmerzfrei. „Eine eindeutige Kausalitätskette, dass schiefe Zähne zwingend Schmerzen im Gesichtsbereich auslösen, lässt sich also nach aktuellem Stand der Wissenschaft nicht aufzeigen.“
Sind die entwickelten Apparate also eigentlich überflüssig?
„Es fehlt der wissenschaftliche Beweis, dass die Apparate die Schmerzen in ihrer Ursache erkennen, entsprechend aufzeichnen oder behandeln können“, sagt Hey. Schmerzentstehung sei sehr komplex. Es bestehe die vereinfachte Annahme, dass dort, wo die stärksten Schmerzen empfunden werden, auch ihre Ursache liege. „Es kann also sein, dass eine Behandlung der schmerzempfindlichsten Region keine dauerhafte Linderung der Beschwerden bewirkt. Zudem muss Schmerzlinderung nicht zwingend durch eine medikamentöse oder invasive Behandlung gelingen“, unterstreicht er.
An dieser Stelle unternimmt Hey einen Ausflug in die Geschichte unseres Schmerzverständnisses: So hätten beispielsweise die Menschen im Mittelalter angenommenen, dass Schmerz eine Strafe Gottes sei. „Wer Schmerzen hatte, der ist davon ausgegangen, dass er irgendeine Sünde begangen hat“, sagt er. Um seine Beschwerden zu lindern, musste er in der Kirche Buße tun. Ein Priester hörte sich seine Beichte an. Nicht zuletzt die Zuwendung des Geistlichen, sein Zuhören, konnte dazu beitragen, dass sich die Schmerzen des Betroffenen reduzierten. „Möglicherweise gibt es auch heutzutage noch eine Vielzahl an Optionen, Schmerzen einfacher zu lindern, als hierfür aufwendige technikgestützte Diagnose- und Therapiemaßnahmen durchzuführen“, sagt Hey.
Was aber sind denn die Alternativen?
„Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, den wahren Ursachen der Muskelschmerzen auf den Grund zu gehen“, sagt Hey. Die Zähne beziehungsweise die Bisslage selbst seien dafür nach aktuellem Wissensstand nur in etwa zehn Prozent der Fälle verantwortlich. Der Arzt verweist darauf, dass die Kaumuskulatur verschiedene Funktionen zu erfüllen hat. Sie sei durchaus nicht nur dazu da, Nahrung zu zerkleinern, sondern diene unter anderem auch dem Stressabbau. Hey macht es anschaulich: Ein Affe im Zoo, der von den Besuchern geärgert werde, fletsche die Zähne. Ein Mensch, der sich ärgere, reagiere ähnlich. Zwar sei es in unserer zivilisierten Welt nicht üblich, seinem Gegenüber die Zähne zu zeigen. „Aber er beißt sie zusammen“, erklärt Hey. „In anstrengenden oder belastenden Situationen arbeitet unsere Kaumuskulatur unbewusst.“ Und heutzutage könne Stress immer weniger durch körperliche Betätigung abgebaut werden. „Vielmehr sitzen die Betroffenen vor ihrem Schreibtisch und knirschen mit den Zähnen“, unterstreicht der Mediziner.
Hinzu komme noch ein anderer Punkt. „Unser Kausystem ist auch ein System zur Stabilisierung des Gesichtsschädels“, erläutert Hey. Es sorge dafür, dass der Kopf bei unseren Bewegungen gerade bleibe. Deutlich wird dieser Mechanismus, wenn etwas Schweres gehoben werde. Man müsse nur mal einen Gewichtheber genauer beobachten. Der beiße kräftig die Zähne zusammen, wenn er seine Gewichte stemme.
Die Anspannung der Rücken-, Schulter- und Nackenmuskulatur führe unter anderem dazu, dass sich Unterzungen- und Kaumuskulatur reflexartig Zusammenziehen. Durch diesen Mechanismus werde sein Schädel gegen den starken Zug der Nacken- und Schultermuskulatur abgestützt. Der Mediziner erläutert, dass es bei schlechter Arbeitshaltung am Computer zu einer übermäßigen Belastung der Nacken- und Schultermuskulatur komme. Genauso in Mitleidenschaft gezogen werde aber die Kaumuskulatur. Sie stütze auch in diesem Fall den Schädel ab, sorge dafür, dass der Kopf nicht wegknicke. Oftmals würden die Verspannungen der Schulter- und Nackenmuskulatur von den Betroffenen gar nicht mehr wahrgenommen – erst wenn die Kaumuskeln hinzukämen, würden starke Schmerzen verspürt.
Stress und Körperfehlhaltungen, so unterstreicht Hey, seien für 90 Prozent der Schmerzen der Kaumuskulatur verantwortlich, die Menschen im Gesicht empfinden. Diese beiden Ursachen könnten die Menschen in der heutigen Zeit schlecht kompensieren. Und deshalb nehme die Zahl der Betroffenen ständig zu.
Wie kommt es, dass jemand, der Schmerzen im Gesichtsbereich hat, auf einmal schief beißt?
„Wenn jemand eine richtig verspannte Kaumuskulatur hat, dann verschiebt sich der Kiefer etwas, er nimmt eine Schonhaltung ein und die Zähne passen nicht mehr genau aufeinander“, erklärt Hey.
Und wie kann das alles letztlich behandelt werden?
„Der Zahnarzt kann leider nicht so viel machen, wie sich die Betroffenen eigentlich erhoffen“, sagt Hey. Da die Schmerzen der Muskulatur auch im Mundbereich liegen, gehen die Patienten zumeist zuerst zum Zahnarzt. Seine Aufgabe besteht darin, zu ergründen, inwieweit die Zähne oder der Zahnersatz verantwortlich sein können. Da dies eher selten der Fall ist, ist es wichtig, die Patienten über die potenziellen Ursachen aufzuklären, ihnen die Angst zu nehmen, dass hinter dem Schmerz im Gesicht zwingend etwas Bedrohliches stecken müsse. „Denn etwas anderes als ein starker Muskelkater im Gesicht ist es oftmals ja eigentlich nicht“, sagt Hey. „Trotzdem müssen wir den Betroffenen empfehlen, eine weitere Abklärung der Schmerzen durch einen Hausarzt oder Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen vornehmen zu lassen, da - obgleich sehr unwahrscheinlich - mitunter eine pathologische Veränderung ursächlich für die Schmerzen ist.“
Bei der Therapie könnten zwei Ansätze unterschieden werden: Zum einen die kurzfristige symptombezogene Behandlung. Hierzu zählten insbesondere physiotherapeutische Maßnahmen zur Entspannung der Muskulatur und medikamentöse Maßnahmen zur Reduktion der Schmerzen. Zum Anderen die langfristige Beseitigung der eigentlichen Ursachen. So könne es bei Fehlhaltungen am Arbeitsplatz sinnvoll sein, diesen langfristig ergonomisch umzustrukturieren. Aber das, so betont Hey, sei eigentlich schon nicht mehr das Arbeitsgebiet eines Zahnarztes.
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