1. MZ.de
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Familie
  6. >
  7. Psychologie und Familie: „Wegen meiner Kindheit bin ich heute so!“ – Warum der Blick zurück oft zu kurz greift

Psychologie und Familie „Wegen meiner Kindheit bin ich heute so!“ – Warum der Blick zurück oft zu kurz greift

Kindheitstraumata und elterliches Fehlverhalten als Erklärung für heutige Probleme – in sozialen Medien ist das „Parent Blaming“ weit verbreitet. Doch Psychotherapeuten warnen: Wer zu lange in der Vergangenheit verharrt, riskiert den nächsten Fehler.

Von Helene Kilb 13.05.2025, 09:56
Immer mehr junge Erwachsene machen ihre Eltern für eigene Schwächen, Verhaltensmuster oder gar psychische Krankheiten verantwortlich.
Immer mehr junge Erwachsene machen ihre Eltern für eigene Schwächen, Verhaltensmuster oder gar psychische Krankheiten verantwortlich. (Foto: IMAGO / Westend61)

Insbesondere in den sozialen Medien und in Selbsthilfebüchern taucht die Idee oft auf: Dass Schwächen, Verhaltensmuster oder gar psychische Krankheiten ihren Ursprung eigentlich in der Vergangenheit haben. Genauer: in negativen Erfahrungen oder gar Traumata in der Kindheit. „Parent Blaming“ nennt sich das Phänomen. Auf Deutsch bedeutet es etwas so viel wie „die Eltern beschuldigen“.

Lesen Sie auch: Belastete Mutter-Beziehung: Wie gelingt Heilung, Frau Stahl?

Allerdings geht es hierbei nicht um gravierende Probleme wie Süchte, Missbrauch oder Misshandlung. Sondern eher um die großen und kleinen Unwägbarkeiten, die ein Erwachsenenleben so mit sich bringt: Selbstzweifel, ein mittelmäßiger Job, eine kriselnde Beziehung oder Überarbeitung.

Warum „Parent Blaming“ so verführerisch ist

Sogar in Psychotherapien kann es sein, dass Therapeuten und Therapeutinnen Negatives auf die Erziehung und den Umgang mit den Eltern zurückführen, sagt Lisa Marie Hubbe. Sie ist Vorsitzende der Landesgruppe Sachsen-Anhalt der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) und arbeitet zusammen mit ihrer Kollegin Anja Liese als Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie in Ackendorf (Börde). Ihrer Einschätzung nach nutzen Betroffene „Parent Blaming“ als schnelle und einfache Möglichkeit, um Ursachen zu identifizieren.

Auch interessant: Kindheitstrauma erkennen und überwinden. Zwei Experten geben Antworten.

Und tatsächlich spiele für die spätere Verfassung die Erziehung eine wichtige Rolle. Aber eben nicht nur: „Psychische Gesundheit ist ein Zusammenspiel aus genetischen Faktoren, Umweltbedingungen, individuellen Entscheidungen und sozialen Einflüssen“, sagt Hubbe.

Wie viel Einfluss hat die Kindheit wirklich?

Hubbes Kollegin Liese ergänzt: „Den Einfluss der Kindheit auf die eigene Persönlichkeit kritisch zu hinterfragen, kann helfen, Denk- und Verhaltensmuster zu verstehen. Aber es wird zum Problem, wenn diese Erklärungen zu einseitigen Schuldzuweisungen werden, die Menschen daran hindern, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen.“

Lesen Sie auch: Studie: Kindheitstrauma kann Spuren im Erbgut hinterlassen

Dass manche Menschen trotzdem daran festhalten, erklärt Liese wie folgt: „Sie suchen ausschließlich die Verantwortung bei anderen, um eigene Verantwortung zu vermeiden.“ Schließlich ist es einfacher, etwa das geringe Selbstbewusstsein mit einer überbehüteten Kindheit zu erklären, als sich zu fragen, was man dagegen tun kann.

Meist basiere ‚Parent Blaming‘ auf Ängsten, zum Beispiel vor Veränderungen oder vor Überforderung, sagt Lisa Marie Hubbe, Vorsitzende der Landesgruppe Sachsen-Anhalt der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV).
Meist basiere ‚Parent Blaming‘ auf Ängsten, zum Beispiel vor Veränderungen oder vor Überforderung, sagt Lisa Marie Hubbe, Vorsitzende der Landesgruppe Sachsen-Anhalt der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV).
(Foto: Nick Clausing)

Dabei passiere das Beschuldigen der Eltern unbewusst, sagt ihre Kollegin Hubbe von der DPtV. „Meist basiert ‚Parent Blaming‘ auf Ängsten, zum Beispiel vor Veränderungen oder vor Überforderung“.

Die versteckten Gefahren der Schuldzuweisung

Schwierig wird es, wenn Betroffene dauerhaft in der Opferrolle verharren: „Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen können daraus einen sekundären Krankheitsgewinn entwickeln“, sagt Hubbe – also einen Selbstwert, der an die erhöhte Aufmerksamkeit oder entgegengebrachtes Mitleid gekoppelt ist. Oder eine gute Entschuldigung, unangenehme Situationen zu meiden.

Und: „Parent Blaming“ hat nicht nur Folgen für die erwachsenen Kinder, sondern auch für ihre Eltern: „Eltern fühlen sich oft ungerecht beurteilt, besonders wenn sie in bester Absicht gehandelt haben“, sagt Hubbe. „Eine dauerhafte Schuldzuweisung kann zu Kontaktabbrüchen oder einer dauerhaft belasteten Eltern-Kind-Beziehung führen.“

Kommt eine neue Generation hinzu, birgt das weiteres Problem-Potenzial: „Wer sich stark mit seinem eigenen Trauma identifiziert, kann Schwierigkeiten haben, eine gesunde Erziehung für die eigenen Kinder zu gestalten“, sagt Hubbe. So könne es sein, dass die noch jungen Eltern durch übermäßige Strenge versuchen, die Fehler der eigenen Eltern zu vermeiden – oder aber extrem nachgiebig sind, um sich nichts „zuschulden“ kommen zu lassen.

Gleichzeitig eröffnet Elternschaft aber auch die Chance, die eigenen Eltern differenzierter zu betrachten: „Eltern sind nicht per se gut oder schlecht“, sagt Anja Liese. „Jeder hat Stärken und Schwächen oder gute und schlechte Tage, so auch Eltern.“

Eltern zwischen Erwartung, Schuld und Realität

Auch Bernadett Trojak, Systemische Therapeutin und Sprecherin der Regionalgruppe Mitteldeutschland der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) sagt: „Gerade bei mehreren Kindern zeigt sich schnell: Die Erziehung und das Erwachsenenleben sind nie eine Eins-zu-Eins-Bewegung. Eltern haben allenfalls Anteile daran, wie sich die Kinder entwickeln.“

"Eltern wollen in der Regel nur das Beste für ihr Kind und handeln nach bestem Wissen und Gewissen."

Bernadett Troja, Systemische Therapeutin 

Je älter die Kinder werden, desto mehr Einflüsse formen ihren Charakter: Veranlagung, Erfahrungen in Kita und Schule oder Freundschaften. Sie rät dazu, derartige Faktoren auch für die eigenen Eltern zu bedenken, also sich zu fragen:

  • In welchem Alter und in welcher Zeit sind meine Eltern Eltern geworden?
  • Was gab es da für Umstände?

 So könne es zum Beispiel sein, dass die Eltern früher nur wenig Zeit hatten, weil sie viel arbeiten mussten, um finanziell über die Runden zu kommen. „Eltern wollen in der Regel nur das Beste für ihr Kind und handeln nach bestem Wissen und Gewissen.“

Was hilft wirklich: Verantwortung übernehmen statt Schuld verteilen

Bei ihrer Arbeit als systemische Therapeutin spricht sie sich daher immer wieder für Dankbarkeit und Wertschätzung aus. „Der Mensch hat gerne diese defizitäre Brille auf. Wenn er genauer hinschaut, erkennt er aber, dass in der Kindheit auch viel ist, für das man dankbar sein kann.“ Auch deshalb ist „Parent Blaming“ für sie ein falscher Ansatz, um sich mit seinen Schwächen zu befassen. „Ich würde nie von Schuld sprechen“, sagt Trojak.

Allerdings kann es durchaus heilsam sein, sich gedanklich in die eigene Kindheit zurückzubegeben, wenn auch ohne Schuldzuweisung. „Ein emphatischer Blick zurück hilft, Dinge mit weniger Groll zu sehen“, sagt Trojak. „Und er verrät, was genau einen in der Kindheit gestört oder verletzt hat.“

Ausgehend davon könnten die nun erwachsenen Kinder negative Glaubenssätze durch positive ersetzen und sich fragen: „Wie kann ich lernen, mit meiner negativen Erfahrung umzugehen und was brauche ich jetzt, um mich in dem Verhältnis zu meinen Eltern wohlzufühlen?“

Das hilft dann auch dem Nachwuchs, wie die Psychotherapeutinnen Hubbe und Liese sagen: „Im besten Fall erkennen Betroffene, dass die Vergangenheit einen beeinflusst, aber nicht die eigene Zukunft bestimmt. So können sie aus dem Verhalten der Eltern lernen und ihre eigene Elternrolle so gestalten, wie sie es sich für sich selbst gewünscht hätten.“