1. MZ.de
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Familie
  6. >
  7. Manieren: Schlecht erzogen? Dieser Vorwurf ist älter als gedacht - aber was ist wirklich dran?

Umgangsformen Schlecht erzogen? Dieser Vorwurf ist älter als gedacht - aber was ist wirklich dran?

Werteverfall bei Jugendlichen – darüber wurde schon vor mehr als 2000 Jahren geklagt. Doch was ist dran an dem Vorwurf? Ein Blick in eine Tanzschule in Halle, auf Knigge-Kurse und wissenschaftliche Einschätzungen zeigt, warum gutes Benehmen kein Auslaufmodell ist.

Von Helene Kilb 22.12.2025, 13:14
Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Bescheidenheit – auf diese Werte legt Marcus Eichelmann (Mitte) bei der Erziehung seiner Kinder ganz besonderen Wert. Seine Frau Sofia (rechts unten) sieht das genauso. Auch seine Eltern unterstützen ihn dabei.
Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Bescheidenheit – auf diese Werte legt Marcus Eichelmann (Mitte) bei der Erziehung seiner Kinder ganz besonderen Wert. Seine Frau Sofia (rechts unten) sieht das genauso. Auch seine Eltern unterstützen ihn dabei. (Foto: Eichelmann)

Halle (Saale)/Magdeburg. Wer als Jugendlicher einen Kurs in der Tanzschule Eichelmann in Halle bucht, lernt mitunter nicht nur Cha-Cha, Rumba und Foxtrott – sondern auch den angemessenen Umgang mit Menschen.

Lesen Sie auch: Wie aktuell sind Knigge-Empfehlungen vom Türaufhalten bis hin zu Tischsitten heute noch – und wie gehen die jugendlichen Tanzschüler damit um?

Eigentlich sind es Kleinigkeiten, sagt Marcus Eichelmann. Er ist Tanzlehrer in der 1932 gegründeten Tanzschule Eichelmann und Mitglied im Arbeitskreis Umgangsformen International (AUI), umgangssprachlich oft als „Knigge-Gremium“ bezeichnet.

Auch interessant: Knigge-Kurs und Sneaker - Wie Jugendliche den Eintritt in das Erwachsenenleben feiern

„Während der Tanzkurse lernen die Jugendlichen zum Beispiel, dass sie die Tanzfläche als Paar betreten und entsprechend auch zu zweit wieder verlassen.“ Auch Rücksichtnahme, eine angemessene Körpersprache oder korrektes Auffordern gehören dazu.

Mehr als Tanzen: Was Jugendliche in der Tanzschule fürs Leben lernen

Darüber hinaus bietet die Tanzschule für Teilnehmende der Jugendlichen-Grundkurse ein einstündiges Knigge-Training an, als Vorbereitung auf den im Herbst stattfindenden Premierenball. „Das Training ist freiwillig. Aber wir haben hier bisher eine 100-Prozent-Quote“, sagt Eichelmann.

„Dabei lernen die Jugendlichen, wann sie duzen und wann siezen, wie sie Small Talk führen, welche Kleidung und welche Gesprächsthemen bei welchem Anlass angemessen sind.“ Auch kleine Gesten der Aufmerksamkeit, etwa den Mädchen aus der Jacke zu helfen, gehören dazu.

Einer Frau die Tür aufhalten? Klar, sagt Knigge-Coach Marcus Eichelmann.
Einer Frau die Tür aufhalten? Klar, sagt Knigge-Coach Marcus Eichelmann.
(Foto: Andreas Stedtler)

Dazu kommen gelegentlich Crashkurse in Sachen kulinarische Umgangsformen: „Dazu essen wir mit den Jugendlichen im Dorint-Hotel ein Vier-Gang-Menü und zeigen ihnen, wie man mit den vielen Bestecken auf dem Tisch zurechtkommt und worauf es sonst alles zu achten gilt“, sagt Eichelmann.

Lesen Sie auch: Eltern nehmen eine wichtige Vorbildfunktion für ihre Kinder ein. Allerdings zeigen sie selbst oft nicht nur gute Eigenschaften. Warum sie sich trotzdem nicht verstellen sollten.

Wichtig ist ihm, nicht den verstaubten Traditionellen mit erhobenem Zeigefinger zu verkörpern. „Deshalb sprechen wir auch nie von Benimmregeln, sondern von unserem Anti-Blamier-Programm“, sagt Eichelmann. „Wir sorgen dafür, dass unsere Teilnehmenden bei anderen Menschen gut ankommen, in aktuellen Lebenssituationen: etwa beim Dating oder beim Bewerbungsgespräch.“

Anti-Blamier-Programm statt erhobenem Zeigefinger

Manche der Jugendlichen seien anfangs etwas skeptisch. „Aber dann merken sie schnell, dass sie das, was wir da erzählen, immer wieder brauchen, etwa wenn sie ihren Schwarm zum Essen einladen oder zum ersten Mal bei den Schwiegereltern sitzen.“

An dem Buch "Der aktuelle Knigge im Job" hat Marcus Eichelmann mitgearbeitet. 
An dem Buch "Der aktuelle Knigge im Job" hat Marcus Eichelmann mitgearbeitet. 
(Foto: Andreas Stedtler)

Das Anti-Blamier-Programm scheint zu funktionieren: „Oft kriegen wir noch Jahre später tolles Feedback von den Schülern“, sagt Eichelmann. „Zum Beispiel von Menschen, die beim Bewerbungstraining waren und deshalb genommen wurden, oder die den Schwarm ihres Lebens geheiratet und Kinder bekommen haben.“

Schlecht erzogen? Dieser Vorwurf ist älter als gedacht

Das wirft die Frage auf: Ist gutes Benehmen, wie es früher selbstverständlich war, heute zunehmend eine Ausnahmeerscheinung? Nicht wirklich, sagt Stephanie Heß, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg (OVGU). „Wenn es diesen totalen Werteverlust wirklich gäbe, würde eine Generation ohne Gewissen und Moral vor uns stehen. Und das ist nun wirklich nicht der Fall.“

Trotzdem komme der Vorwurf immer wieder auf – und zwar schon seit mehr als zweitausend Jahren. Schon Sokrates habe den angeblichen Wertverlust bemängelt, sagt Heß.

Respekt oder Missverständnis? Warum Generationen sich oft falsch verstehen

Ein Sokrates-Zitat lautet: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität.“ Tatsächlich entstehe der Eindruck eher aus der subjektiven Wahrnehmung, die sich von Generation zu Generation unterscheidet, sagt Heß.

„Die Jugend macht notwendigerweise ganz viel anders als die ältere Generation", sagt Stephanie Heß.
„Die Jugend macht notwendigerweise ganz viel anders als die ältere Generation", sagt Stephanie Heß.
(Foto: Jana Dünnhaupt)

Ein Beispiel: „,Du Blödmann’ wird als Beleidigung genutzt“, sagt Heß, „aber genauso oft als Frotzelei. Es gibt beispielsweise eine Studie, die zeigt, dass Lehrer Missachtung häufiger als Unhöflichkeit empfinden als ihre Schüler – diese gehen einfach davon aus, dass man sie nicht gehört hat.“

Und: „Die Jugend macht notwendigerweise ganz viel anders als die ältere Generation. Die ältere Generation hat wiederum ihr komplettes Leben in die aktuellen Gesellschaftsbedingungen investiert, die jetzt vor ihren Augen kritisiert und verändert wird“, sagt Heß.

Smartphone, Absagen, Unverbindlichkeit – wirklich ein Jugendproblem?

Manch neue Gepflogenheit entsteht auch aus dem technischen Fortschritt: „Durch das Smartphone ist alles viel gleichzeitiger und damit unverbindlicher geworden“, sagt Heß. So lassen sich etwa Verabredungen bis zur letzten Minute verschieben oder absagen, was ohne Handy nicht so einfach möglich war.

„Aber hier möchte ich betonen: Das ist kein Jugendproblem, das machen Erwachsene genauso“, sagt Heß. Darüber hinaus hat jede Generation ihre eigenen Werte – also Ziele, die sie als erstrebenswert erachtet. Diese hängen von gesellschaftlichen und politischen Einflussfaktoren ab, aber auch vom Alter und der sozialen Schicht.

Klassische Werte erleben ein Comeback

„Umfragen zeigen, dass ganz klassische Werte wie Familie, Heimat, Sicherheit, Zuverlässigkeit für viele junge Menschen einen großen und wachsenden Stellenwert einnehmen“, sagt Heß. „Damit spielen auch klassische Tugenden für viele junge Menschen eine ganz große Rolle: Fleiß, Ehrgeiz, Pünktlichkeit, sich an Regeln halten.“

Auch das Streben nach Sicherheit sei wieder da, ausgelöst von der aktuellen Weltlage. „Insgesamt ähnelt der Wertekanon der heutigen Jugend viel stärker dem der Babyboomer-Generation als der Generation der Millennials“, sagt Heß.

Eltern als Vorbild: Werte lassen sich nicht delegieren

Was es zudem zu beachten gilt: „Erwachsene, die ihre Kinder oder die Jugend dafür kritisieren, dass sie weder Ideale noch Werte haben, bedenken dabei häufig nicht, dass ihr eigenes Beispiel mit ausschlaggebend ist, wie sich die Folgegeneration entwickelt“, sagt Stephanie Heß. Sprich: Wer sich gut erzogene Kinder wünscht, sollte das gewünschte Verhalten erst einmal vorleben.

So sieht das im Übrigen auch Tanzlehrer Marcus Eichelmann. Er möchte seinen Kindern eine Reihe an Werten und Tugenden mitgeben, „vor allem Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Bescheidenheit“, so der 35-Jährige. „Und was wir immer versuchen: Lösungen finden, statt Probleme zu sehen.“