Geburt Gewalt im Kreißsaal, das kommt offenbar öfter vor
In ihrem Buch schreibt unsere Autorin über selbstbestimmte Geburten, ihre eigenen traumatischen Erfahrungen und wie sich Frauen vor Übergriffen in Kliniken schützen können.
„Das wird so nichts“, hat die Hebamme zu mir gesagt. Ich bräuchte einen Wehentropf. „Und weil du ja nicht gerade schmerzresistent bist, bekommst du eine PDA.“ Ich war geschockt. Was hatte ich falsch gemacht? Ich war nur wenige Stunden im Krankenhaus und schon brauchte ich all diese Interventionen. Mein Gefühl sagte mir, dass ich erst einmal turnen und in die Wanne gehen sollte, wie ich es im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte. Gleichzeitig dachte ich: Die Hebamme ist doch die Expertin. Ich widersprach ihr nicht und bekam den Wehentropf, der die Wehen beschleunigte, und die PDA, die den Schmerz lindern sollte.
Wie viele Erstgebärende war ich voller Vertrauen ins Krankenhaus gegangen und dachte mir, dass die Menschen dort wissen, was sie tun. Heute, fast neun Jahre später, weiß ich viel mehr über das System Geburtshilfe. Ich habe gelernt, dass es eine Interventionskaskade gibt. Das bedeutet: Wenn einmal in die Geburt eingegriffen wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es zu weiteren Eingriffen kommt. Bei mir war es die Saugglocke mit Dammschnitt, die den ersten Eingriffen folgte. Ein Dammschnitt, dem ich nicht zustimmte und über den ich nicht informiert wurde. Bei der Geburt meiner ersten Tochter habe ich physische und psychische Gewalt erlebt.
Ich wusste damals auch nicht, dass viele Interventionen nicht gemacht werden, weil sie eindeutig medizinisch notwendig sind, sondern aus Routine. Vielen Eltern fällt es schwer, die Anweisungen des Personals zu hinterfragen. Die junge Hebamme Julia Minninger von der Organisation der jungen und werdenden Hebammen (JuWeHen) fragt: „Woran kann es liegen, dass wir in Deutschland so eine professionelle Hörigkeit haben, dass Interventionen nicht direkt hinterfragt werden?“ Viele Frauen würden erst später, nach der Geburt, wenn das Geschehen sie zunehmend belastet, die erfolgten Eingriffe hinterfragen.
Mentale Vorbereitung auf die Geburt
Die Geburtsvorbereitung beginnt mit der Frage, wo ich mein Kind zur Welt bringen sollte. Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten: zuhause mit der Hilfe einer Hausgeburtshebamme, im Geburtshaus oder in der Klinik. In Deutschland entscheiden sich 98 Prozent aller Paare für eine Geburt im Krankenhaus. Geburten außerhalb der Klinik finden viel öfter natürlich statt, also ohne medizinische Eingriffe. Dafür gibt es im Geburtshaus keine PDA, mit der die Geburtsschmerzen gelindert werden sollen. Für die Klinik spricht auch, dass im Falle von Komplikationen die Frau direkt vor Ort medizinisch versorgt werden kann. Bei einer Hausgeburt oder im Geburtshaus muss die Frau im Notfall erst in die Klinik verlegt werden.
Die Personalausstattung ist in der Klinik und im Geburtshaus sehr unterschiedlich: Im Krankenhaus betreut eine Hebamme meist mehrere Frauen gleichzeitig, im Geburtshaus gibt es eine Eins-zu-eins-Betreuung, die Hebamme betreut nur eine Gebärende. Jeder Geburtsort hat seine Vor- und Nachteile.
Es lohnt sich, für die Auswahl des Geburtsortes andere Mütter zu fragen, wie ihre Erfahrungen dort waren, mit der Nachsorge-Hebamme darüber zu sprechen und sich die Google-Bewertungen der Geburtskliniken und Geburtshäuser durchzulesen.
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Bei der Auswahl einer Klinik sollten Paare checken: Wie oft kommt es dort zum Kaiserschnitt? Wie oft zum Dammschnitt oder zu Saugglockengeburten? Diese Fragen können Frauen beim Infoabend und bei der Anmeldung stellen. Vergleicht man diese Zahlen mit den Durchschnittswerten für Deutschland, gibt das einen Hinweis darauf, ob hier viel oder wenig in die Geburt eingegriffen wird. Gerade für Frauen mit dem Wunsch nach einer natürlichen Geburt sind diese Informationen wichtig.
Lena Högemann, Jahrgang 1982, ist Journalistin, Podcasterin und Expertin für selbstbestimmte Geburten. Als Autorin berichtet sie in ihrem kürzlich erschienenen Sachbuch über die Krise der Geburtshilfe. Denn fast die Hälfte der Gebärenden macht belastende Erfahrungen im Kreißsaal. Das bedeutet: Eingriffe werden über ihren Kopf hinweg entschieden, sie erleben psychische und physische Gewalt, Vernachlässigung und Fremdbestimmung. Meist werden die Betroffenen danach mit diesem verstörenden Erlebnis alleingelassen. Högemann fragt, wie Schwangere sich schützen und Mütter das Geschehene verarbeiten können. Die Autorin hat selbst eine traumatische Geburtserfahrung gemacht. Sie erklärt, was sich in der medizinischen Geburtshilfe ändern muss, und verbindet Berichte Betroffener mit wertvollen Tipps für Eltern nach der Geburt und Menschen, die Eltern werden wollen.
Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen“: Lena Högemann, Ullstein-Verlag, 22,99 Euro, ISBN: 9783550202759
Viele Frauen schreiben einen Geburtsplan für die Klinik. Darin schreiben sie auf, was ihnen wichtig ist. Sie halten beispielsweise fest, dass sie allen medizinischen Eingriffen in die Geburt zustimmen müssen und dass ihre Begleitung bei der gesamten Geburt – auch bei einem möglichen Kaiserschnitt – bei ihnen bleiben soll. Im Internet gibt es zahlreiche Vorlagen dafür. Ein Geburtsplan bedeutet nicht, dass die Geburt auf jeden Fall so laufen wird. Aber er zeigt den Ärzten und Hebammen, dass sich die werdenden Eltern Gedanken gemacht habt, wie sie sich die Geburt wünschen. Den Geburtsplan sollten Paare schon bei der Anmeldung in der Klinik besprechen. Bei der Geburt kann dann der Partner oder eine andere Begleitperson mehrere Kopien des Geburtsplans dabeihaben, um jede neue Hebamme oder Ärztin, die den Kreißsaal betritt, darauf hinzuweisen.
In den Kliniken reagieren Ärztinnen und Ärzte sehr unterschiedlich auf einen Geburtsplan. Mandy Mangler ist Chefärztin zweier Geburtskliniken in Berlin. In ihren Kliniken können und sollen Frauen sich vorher Gedanken machen, wie sie gebären wollen, erklärt sie. Als Ärztin stellt sie sicher, dass die Frau gut informiert ist. „Meine Aufgabe ist es, dass die Frau ihre Wünsche und ihren Plan umsetzen kann“, erklärt sie. Die Chefärztin sagt auch: „Es gibt Geburten, da schaffen wir es nicht, den Plan umzusetzen, und trotzdem können das gute Geburten werden.“ Es lohnt sich also zu schauen, wie das Gegenüber in der Klinik auf den Geburtsplan reagiert – ein Indiz, ob hier selbstbestimmte Geburten angestrebt werden oder eben nicht.
Grundkonsens über Eingriffe
Die Gesellschaften für Geburtshilfe und Hebammenwissenschaften haben im Dezember 2020 eine Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin veröffentlicht. Diese Leitlinie ist eine Art Grundkonsens der wissenschaftlichen Erkenntnisse rund um die Geburt, die Experten der Fachverbände gemeinsam anhand der bestmöglichen Evidenz erarbeitet haben. Darin fassen die Autoren den Stand der Wissenschaft zusammen und beschreiben, wie Mediziner in bestimmten Situationen verfahren sollten und welche Eingriffe wann zu empfehlen sind. Es gibt eine Kurzfassung der Leitlinie, die Schwangere und ihre Begleitpersonen lesen können.
Wenn es dann im Kreißsaal zu der Situation kommt, dass die Hebamme einen Eingriff vornehmen möchte, gibt es etliche Fragen, die Paaren helfen können: Welche medizinische Indikation gibt es für die Intervention? Ist Ihr Vorgehen leitlinienkonform? Was passiert, wenn wir es nicht machen? Diese Fragen sind vor allem für die Begleitperson – oft ist es der Partner oder die Partnerin – wichtig. Wenn sich ein werdender Vater aber nicht wohlfühlt, während der Geburt die Interessen seiner Frau zu vertreten, können die beiden auch eine weitere Person mit ins Krankenhaus nehmen – die Mutter, Schwester oder eine Freundin. Vielleicht sogar eine Doula, die speziell dafür ausgebildet wurde, die Frau bei der Geburt zu unterstützen.