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Welche Folgen eine Kindheit ohne Liebe hat „Es gibt keine schwer erziehbaren Kinder“

Kinderpsychotherapeut Christian Lüdke: Wenn Kinder nur wenig Herzenswärme erfahren, leiden sie auch als Erwachsene oft darunter, sind bindungsscheu und haben wenig Selbstbewusstsein. Was Eltern tun sollten.

Von Heidi Becker Aktualisiert: 27.02.2024, 10:16
Wer als Kind keine Liebe erfährt, leidet mitunter bis ins Erwachsenenalter darunter.
Wer als Kind keine Liebe erfährt, leidet mitunter bis ins Erwachsenenalter darunter. Foto: IMAGO/Newscom World

Die meisten Kinder haben Eltern, die mit ihnen spielen, ihnen sagen, dass sie sie lieb haben, und sie trösten und in den Arm nehmen, wenn sie sich einmal wehtun. Manche Kinder erfahren diese Zeichen der elterlichen Liebe aber nicht. Sie werden zwar mitunter gut versorgt, aber nicht gut umsorgt. Das kann schwere Folgen haben.

Nicht nur Misshandlung und sexueller Missbrauch in der Kindheit hinterlassen tiefe Spuren in der Psyche. So zeigt eine Längsschnittstudie mit mehr als 5.000 repräsentativ ausgewählten jungen Erwachsenen in den USA, dass Lieblosigkeit in der Kindheit zu Depressionen im Erwachsenenalter führen kann. Rund 16 Prozent der Befragten (Mitte 20 bis Anfang 30) gaben an, schon einmal unter Depressionen gelitten zu haben. Etwa genauso viele berichteten, sich im Kindes- oder Jugendlichenalter oft ungeliebt gefühlt zu haben. Solche Menschen haben demnach ein dreimal höheres Risiko, später an Depressionen zu erkranken.

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„Ohne in der Kindheit Liebe erfahren zu haben, ist es schwierig, glücklich zu werden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen“, sagt Christian Lüdke, Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Kinder, die von ihren Eltern keine Liebe erfahren, zeigten ab einem gewissen Alter ein verändertes Verhalten. Ungefähr mit dem achten Lebensjahr würden sie auffällig werden. „Das ist dann meistens der Zeitpunkt, an dem sie merken, dass die anderen Kinder etwas haben, was sie nicht haben – und das sind Eltern, die sich sorgen und sich kümmern“, sagt Lüdke.

Wie die Aggression entsteht

Dann würden diese Kinder eine Art inneres Drehbuch entwickeln: Wenn sie schon nicht geliebt werden, dann wollen sie wenigstens gehasst werden – und das mit der gleichen Intensität. Lüdke erklärt, dass betroffene Kinder anderen Kindern gegenüber dann sehr böse werden können. „Da geht’s nicht mehr um ein bisschen schubsen oder streiten, sie sind teilweise schon sehr brutal.“

Brutalität als Ausweg: Ungeliebte Kinder sind häufig verhaltensauffällig – ihre Art, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Brutalität als Ausweg: Ungeliebte Kinder sind häufig verhaltensauffällig – ihre Art, Aufmerksamkeit zu bekommen.
(Foto: Imago stock&people)

Der Hintergedanke sei immer, dass die Kinder etwas so Krasses tun wollen, dass man sich mit ihnen beschäftigen müsse – und sie dann die Aufmerksamkeit bekommen, die sie zu Hause nicht erhalten, führt Lüdke aus. Das Paradoxe daran sei aber, dass das schlechte Verhalten in den Augen der Kinder dann zum Erfolg führe, wenn sie etwa Ärger bekommen. Das wiederum führe dazu, dass die Kinder dieses Verhalten reproduzieren und sich immer schlechter verhalten, um Aufmerksamkeit zu erlangen.

Es gibt keine schwer erziehbaren Kinder, sondern nur solche mit schwierigen Eltern.

Kinderpsychotherapeut Christian Lüdke

Lüdke nennt diese Kinder „Arschlochkinder“. Das klingt hart und mehr als abwertend. Das weiß Lüdke selbst: „Diese Metapher ist böse und gemein, aber dennoch sehr zutreffend“, erklärt er. Dabei handele es sich um Kinder, die es einem sehr schwer machen, sie lieb zu haben. Klar sei aber immer für ihn, dass dieses Problem nie an den Kindern selbst liege. „Ich glaube, es gibt keine schwer erziehbaren Kinder, ich glaube, es gibt nur Kinder mit schwierigen Eltern“, erklärt Lüdke.

Trotz Streit Liebe zeigen

Gerade in Streitsituationen kann es Eltern schwerfallen, dem Kind ihre Liebe zu zeigen. Solche Situationen gibt es viele: Die Hausaufgaben sind nicht gemacht und das Kinderzimmer ist nicht aufgeräumt. „Dem Kind muss dann klar kommuniziert werden, dass man es liebt – man das Verhalten in dem Moment aber nicht mag“, führt Lüdke aus. Auch Bequemlichkeit hilft nicht weiter: Stört die Eltern die Unordnung, sollten sie das ansprechen und nicht ignorieren. Wichtig sei, dass die Kinder dabei spüren, dass sie dennoch bedingungslos geliebt werden. „So fühlen sie sich in ihrer Person niemals abgewertet“, erklärt Lüdke.

Grundsätzlich rät er Müttern und Vätern: „Eltern sollten nicht vergessen, ihren Kindern einfach mal zu sagen, dass sie sie lieben.“ Genauso wichtig sei es für ein Kind aber auch, diese Liebe zu erleben – durch Schutz, Sicherheit, Geborgenheit und Zärtlichkeit.

Leidet die Psyche?

„Es ist nicht gewiss, dass fehlende Liebe in der Kindheit immer zwangsläufig zu psychischen Problemen im Erwachsenenalter führt“, sagt die Psychologin Sandra Jankowski. Aber: Die Folgen einer lieblosen Kindheit können im Erwachsenenalter sehr vielfältig sein. So sei es etwa üblich, dass Betroffene Konflikte scheuen, unsicher im sozialen Kontakt sind, sich zurückziehen oder isolieren.

Außerdem sei es typisch, dass Betroffene stets das Gefühl haben, es anderen nicht recht machen zu können, oder dass sie immer glauben, nicht gemocht zu werden. „Grundsätzlich besteht ein geringes Selbstvertrauen“, sagt Jankowski. Viele Betroffene hätten Probleme damit, vertrauensvolle und liebevolle Beziehungen einzugehen. „Trennungen sind dann häufig die Folge – welche die Stimmung und den Antrieb noch mehr verschlechtern.“

Situation nicht hoffnungslos

„Wir alle haben tiefe ungestillte Bedürfnisse – so auch das Bedürfnis nach Liebe. Wenn dieses als Kind nicht gestillt wurde, kann das dazu führen, dass wir Dinge tun, von denen wir wissen, dass sie nicht gut für uns sind“, erläutert Lüdke. Das kann nicht nur zum Verlust von Partnerschaft, sondern auch von Freundschaften oder dem Arbeitsplatz führen. „Dieses selbstschädigende Verhalten lässt sich sehr häufig auf die Urerfahrung in der Familie zurückführen, nicht bedingungslos geliebt worden zu sein“, sagt Lüdke.

Aber die Situation ist keinesfalls hoffnungslos: „Es ist durchaus möglich, diesen Liebesmangel im späteren Alter zu verarbeiten und aus dieser negativen Spirale herauszukommen“, sagt Jankowski. Hilfe sollte immer dann in Anspruch genommen werden, wenn die Ängste überhandnehmen oder die depressive Stimmung von allein nicht wieder weggeht, suizidale Gedanken aufkommen oder sich Betroffene immer mehr zurückziehen.