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Gewalt an Kindern Hilfe, mir ist die Hand ausrutscht - was jetzt?

Der Klaps auf die Finger, eine beiläufige Bemerkung oder Liebesentzug – all das zählt unter Gewalt und ist keinesfalls harmlos. Gewalt an Kindern kann sich auf ganz unterschiedliche, manchmal eher subtile Weise äußern. Trotzdem sollten solche Dinge nicht verharmlost werden: Denn sie schaden Kindern nachhaltig. Was Eltern tun können, falls sie die Kontrolle verlieren.

Von Helene Kilb Aktualisiert: 06.11.2023, 17:00
Zu wenig Schlaf, Arbeit, Kind – Stress?  Wer nicht mehr weiter weiß, sollte besser das Zimmer verlassen und  erstmal bis zehn zählen.
Zu wenig Schlaf, Arbeit, Kind – Stress? Wer nicht mehr weiter weiß, sollte besser das Zimmer verlassen und erstmal bis zehn zählen. (Symbolfoto: IMAGO/Shotshop)

Körperliche Misshandlung, sexuelle Übergriffe, Vernachlässigung: Wer an Gewalt denkt, hat oftmals nur solche extremen Ausprägungen vor Augen. Aber Gewalt fängt schon viel früher an: „Schon wenn man sein Kind anschreit oder fest anpackt, ist das Gewalt“, sagt Carola Richter, die beim Kinderschutzbund Halle das Elterntelefon koordiniert. So ist auch der Klaps auf den Po oder die Finger nichts als ein verniedlichter Ausdruck fürs Schlagen.

Richters Kollegin Michaela Fritsch ergänzt: „Und nicht nur körperliche Misshandlung ist Gewalt. Auch Liebesentzug oder ständige Herabwürdigungen wie ,das schaffst du nie’ gehören dazu.“ Wenn Eltern ihren Kindern permanent negative Eigenschaften zuschreiben, sie beleidigen oder emotionale Bedürfnisse unbeachtet lassen, fällt das unter seelische Gewalt.

 "Leichte" Gewalt zuhause durch die Eltern traumatisiert Kinder  besonders

„Dahinter steckt immer ein Machtgefälle“, sagt Richter, „all das ist ein Zeichen dafür, dass Eltern ihren Kindern nicht auf Augenhöhe begegnen und keine Handlungsperspektiven zur Gewalt sehen.“

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Zwar können Kinder theoretisch überall im Alltag verstörende Erfahrungen machen, sei es in der Schule, in der Freizeit oder im Whatsapp-Klassenchat. „Aber Gewalt in der Erziehung ist ein besonders schwieriges Thema, weil das Zuhause und die Familie ein besonderer Schutzraum sein sollten“, sagt Richter.

„Wenn dort Gewalt passiert, geht viel zu Bruch.“ Aus diesem Grund ist das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung seit dem Jahr 2001 im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Wer sich dem entgegensetzt, schadet also nicht nur seinem Kind – sondern macht sich auch strafbar.

Gewalt von Eltern an ihren Kindern wird oft bagatellisiert

Seitdem das Gesetz verabschiedet wurde, hat sich etwas getan: Etwa eine repräsentative Studie der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie von 2020 zeigt, dass immer mehr Eltern schwere Körperstrafen ablehnen. Allerdings waren noch immer fast die Hälfte der Befragten der Meinung, dass etwa ein „Klaps auf den Hintern“ vertretbar sei.

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„Leichte Gewalt als Erziehungsmethode ist noch in vielen Köpfen verankert“, sagt auch Richter vom Kinderschutzbund. Eine Ursache dafür sind Erfahrungen, die Eltern selbst als Kinder gemacht haben: „Gerade von traditionell eingestellten Menschen hören wir oft Sätze wie ,Das hat uns auch nicht geschadet’, und dass es eben Zucht und Ordnung braucht“, sagt Richter. Und emotionale Gewalt wird oft nicht einmal als solche wahrgenommen und dadurch verharmlost.

Kindern brauchen nachvollziehbare Regeln statt Gewalt

Die Auslöser für körperliche oder seelische Gewalt sind vielfältig. „Das können finanzielle Sorgen, Misserfolge oder Frustration sein, genau wie Überforderung oder eine problematische Beziehung“, sagt Fritsch. Auch Armut erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Gewalt in einer Familie herrscht.

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„Allerdings wird das sehr hochstilisiert“, stellt Fritsch klar. „Gewalt – und zwar sowohl körperliche als auch psychische – gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Wenn wir anfangen, das Problem zu pauschalisieren, machen wir es kleiner, als es ist.“

Das bedeutet nicht, dass Eltern ihre Kinder gar nicht mehr erziehen sollten. „Im Zusammenleben braucht es natürlich Regeln“, sagt Richter. „Aber diese sollten nachvollziehbar sein“ – und im besten Fall eine gemeinsame Entscheidung.

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„Oft kostet es mehr Zeit und Nerven, Dinge auszuhandeln und Kinder miteinzubeziehen statt sich einfach über sie hinwegzusetzen“, gibt Richter zu. „Aber die Kinder mitentscheiden zu lassen, stärkt das Demokratieverständnis. So ist die Chance hoch, dass sie später zu verantwortungsvollen Erwachsenen werden.“

Sinnvolle Grenzen sind wichtig, können aber entspannen

Ihre Kollegin Fritsch ergänzt: „Sinnvoll ist es auch, sich vorher zu überlegen, welche Regeln und Grenzen es überhaupt braucht. Alles durchzuregeln führt zu unnötigem Stress und Überlastung.“

Wichtig ist: „Eltern müssen sich ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern bewusst sein“, sagt Richter. Das heißt, sie müssen verinnerlichen, dass Gewalt im Familienleben nichts zu suchen hat. „Und sie sollten als Vorbild agieren und eine klare Haltung zeigen, etwa wenn es zu Streitereien mit anderen Kindern kommt. Etwa die Stellungskämpfe unter Geschwistern sollten ohne blutige Nasen ablaufen. Da hilft es, vermittelnd einzugreifen, die Streithähne dazu zu ermutigen, ihre Gefühle und Bedürfnisse zu äußern, dadurch entschärft sich oft schon vieles.“

Carola Richter und Michaela Fritsch vom Kinderschutzbund in Halle.
Carola Richter und Michaela Fritsch vom Kinderschutzbund in Halle.
(Foto: Kinderschutzbund Halle)

Zur Vorbildfunktion gehört es auch, richtig mit einem Ausrutscher umzugehen: „Jedem Menschen passiert einmal ein Fehler“, sagt Richter. „Wenn Eltern einmal lauter werden oder sie einmal die Hand erhoben haben, ist es ganz wichtig, mit dem Kind darüber zu sprechen und den eigenen Fehler einzugestehen“ – und nicht etwa dem Kind und seinem scheinbar provokativen Verhalten die Schuld dafür zu geben.

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Um entspannt zu bleiben, sollten Eltern Überlastung vorbeugen: etwa, indem sie sich Unterstützung holen und sich auf wilde Zeiten vorbereiten. „Etwa wenn ich weiß, dass mein Kind bald in ein Totzphasen-Alter kommt, kann ich dann vielleicht besser damit umgehen, wenn es dann tatsächlich ausrastet“, sagt Fritsch.

Anderen Familien und bekannten Eltern Hilfe anbieten, wenn etwas auffällt

Auch wenn fremde Kinder betroffen sind, sollten Erwachsene nicht wegsehen oder -hören. „Wer Gewalt mitbekommt, etwa bei Freunden oder Nachbarn, sollte als erstes das Gespräch mit ihnen suchen“, rät Richter.

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„Wir empfehlen, den- oder diejenige nicht gleich anzuklagen, sondern das Thema vorsichtig anzusprechen und Verständnis zu zeigen, etwa zu sagen: ,Es war ja ganz schön laut bei euch gestern und deine Tochter hat lange geweint. Das ist wohl gerade etwas sehr herausfordernd für euch?’“ Eine gute Idee sei es zudem, Unterstützung anzubieten. Wer sich unsicher ist, findet bei verschiedenen Anlaufstellen Hilfe:

Insbesondere wenn es um sexuelle Gewalt geht, helfen der Verein Wildwasser Halle oder Profamilia weiter. Bei Missbrauch, Misshandlung, aber auch für allgemeine Erziehungsfragen bietet die Caritas eine Online-Beratung an.

Hilfetelefon bietet Unterstützung für Eltern an

Auch das Elterntelefon, ein bundesweites Angebot der „Nummer gegen Kummer“, können Hilfesuchende in Anspruch nehmen, und zwar anonym und kostenfrei. Das Elterntelefon ist montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr, dienstags und donnerstags bis 19 Uhr besetzt und unter der kostenlosen bundesweiten Rufnummer 0800 1110550 zu erreichen.

Und: Auch kinderlose Menschen können helfen, Gewalt gegen Kinder vorzubeugen. „Oft helfen schon Kleinigkeiten“, sagen Richter und Fritsch vom Kinderschutzbund in Halle: „Mehr Verständnis füreinander aufbringen, sich untereinander entlasten und austauschen – daraus entstehen oft neue Ressourcen.“