Neues Familienmodell im Fokus „Wir ziehen gemeinsam ein Kind auf – ohne Paarbeziehung“: Warum Co-Elternschaft eine echte Alternative ist
Es gibt nicht mehr nur das klassische Modell mit Vater, Mutter, Kind: Immer mehr Menschen wählen bewusst die sogenannte Co-Elternschaft – zwei oder mehr Erwachsene erziehen gemeinsam ein Kind, ohne eine romantische Beziehung einzugehen. Die Berliner Gründerin Christine Wagner hat mit ihrer Plattform Familyship ein Netzwerk für solche Familienkonstellationen aufgebaut.

Halle (Saale)/Berlin. Neben dem klassischen Familienmodell mit Vater, Mutter, Kind gibt es mittlerweile etliche andere Optionen. Eine davon ist eine Co-Elternschaft, bei dem zwei oder mehr Menschen gemeinsam ein Kind aufziehen, ohne selbst ein Paar zu sein.
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Die Berlinerin Christine Wagner lebt so eine Co-Elternschaft. Nach ihrer eigenen Reise zum Wunschkind hat sie mit ihrer früheren Partnerin die Plattform Familyship gegründet. Mit deren Hilfe sollen Menschen mit Kinderwunsch dem Nachwuchs einen großen Schritt näher gebracht werden – egal ob Singles, Angehörige der LGBT-Gemeinschaft oder auch Paare, die keine eigenen Kinder bekommen können.
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Im Interview mit Helene Kilb spricht Wagner darüber, wie Co-Elternschaft gelingen kann – und warum sie manchmal sogar einfacher ist als ein herkömmliches Familienmodell.
Frau Wagner, am Anfang waren da Ihr eigener Kinderwunsch und Ihre Co-Elternschaft, kurz darauf haben Sie Familyship gegründet. Mittlerweile hat sich die Plattform zu einer Gemeinschaft mit rund 15.000 Mitgliedern entwickelt. Warum entscheiden sich Menschen für dieses Modell?
Christine Wagner: Der häufigste Grund ist, dass zum richtigen Zeitpunkt nicht der richtige Partner oder die richtige Partnerin vorhanden ist. Das betrifft zu einem großen Anteil heterosexuelle Frauen Ende 30 oder Anfang 40. Männer machen sich im Schnitt fünf bis zehn Jahre später auf als alleinstehende Frauen, um ihren Kinderwunsch zu realisieren.
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Daneben beobachten wir zunehmend, dass Männer, deren Partnerinnen keine Kinder bekommen können oder möchten, sich bei Familyship registrieren. Eine weitere große Gruppe sind Menschen, die mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten leben – sowohl alleinstehend als auch in Partnerschaft.
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Neu ist momentan diese Entwicklung: heterosexuelle Paare, die die Partnerschaft zwar erhalten wollen, bei dem sich einer der Partner aber gleichzeitig einen einseitigen Kinderwunsch erfüllen möchte.
Vater, Mutter, Ehe und Kind – dürfte es nicht gerade Singles mit Kinderwunsch schwer fallen, sich von diesem Familien-Idealbild zu verabschieden?
Christine Wagner: Ja, das ist erstmal schwierig. Viele Menschen spüren eine große Verzweiflung, wenn sie dieses Ideal nicht erreichen können.
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Der Gedanke, eine neue Familienform wählen zu können, führt oftmals zu großer Erleichterung und neuer Hoffnung. Und ich glaube, mittlerweile sind wir es gewohnt, dass eine Familienstruktur nicht mehr genau so aussieht, wie wir sie ursprünglich geplant haben. Ich schätze, dass das Modell mit der traditionellen Kernfamilie – also Vater, Mutter, Kind, Ehe – eigentlich nur in 50 bis 60 Prozent der Fälle gut geht.
Die übrigen 40 bis 50 Prozent enden als Patchwork. Und dass es jetzt neue Familienmodelle gibt, die von vornherein anders geplant sind und nachher aussehen wie eine Patchwork-Familie, das ist in vielen Bereichen der Gesellschaft vermutlich kein großes Ding mehr.
Worauf müssen sich Menschen einstellen, wenn sie eine Co-Elternschaft eingehen möchten?
Christine Wagner: Es ist erstmal ein Weg der Ambivalenz. Aber er lohnt sich auf jeden Fall. Mit der Entscheidung, sich für neue Familienmodelle zu öffnen, entstehen neue Möglichkeiten. Das Schöne daran ist, dass man sowohl Elternteil werden als auch ein Stück seines alten Lebens erhalten kann.
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Finanzielle Belange sind geregelt und Absprachen sind oft sehr klar. Hausarbeit und Carearbeit sind oft fairer verteilt, gerade wenn die Co-Eltern in zwei verschiedenen Haushalten leben. Gemeinsam ein Kind großzuziehen, bedeutet damit, für das Kind da zu sein, aber eben auch: Freiräume zu haben, Freunde zu treffen, Sport zu treiben, neue Energie zu sammeln.

Wenn ich auf meine eigene Familie gucke, dann ist es so: Der Vater meiner Tochter und ich, wir kümmern uns um unsere Tochter, haben unseren eigenen Alltag, arbeiten beide.
Alle diese Bereiche haben wir uns gerecht 50/50 aufgeteilt. Dadurch sind wir nicht permanent am Anschlag, sondern haben immer wieder Luft, um statt Mama und Papa zwischendurch auch wieder Mensch zu sein.
Wie kann das Modell der Co-Elternschaft gelingen?
Christine Wagner: Co-Elternschaft sollte keine Entscheidung sein, die man übereilt trifft, weil man 41 Jahre geworden ist und denkt: „Ich habe vielleicht noch ein Jahr lang Zeit und ich nehme jetzt den Nächstbesten, der das gleiche Familienmodell möchte.“
Ich rate, darauf zu achten, dass man ähnliche Werte hat, eine ähnliche Haltung, einen ähnlichen Blick auf die Welt. Weil man sich nachher in Erziehungsfragen einig werden muss und Lösungen finden muss, gemeinsam.
Braucht es einen Vertrag zwischen Co-Eltern, damit es später keine Streitigkeit gibt?
Christine Wagner: Zumindest ein gemeinsamer Fahrplan als Orientierung ist auf jeden Fall sinnvoll, um festzulegen, welche Punkte wem wichtig sind.
Auch wenn man sich als Mensch ohne Kinder vielleicht nicht so gut vorstellen kann, wie das nachher wirklich sein wird und zu welchen Fragestellungen man Lösungen brauchen wird.
Wie finden Kinder das, wenn die Eltern kein Paar sind?
Christine Wagner: Den Kindern ist es wichtig, dass sie Elternteile haben, die beständig und emphatisch sind, die sich fest verantwortlich fühlen – also Elternteile, auf die die Kinder sich verlassen können. Ob diese Menschen ein Paar sind oder nicht, das ist den Kindern völlig egal. Wichtig ist, dass es diese Bezugspersonen gibt und dass sie für das Kind klar benannt sind.
Wie sieht es eigentlich aus, wenn sich einer von den beteiligten Co-Eltern verliebt und eine dritte Person in das ganze Gefüge eintritt?
Christine Wagner: Das macht das Ganze sicher komplizierter. Aber letztlich ist es wie bei jeder anderen Patchwork-Kombination: Man muss sich im Klaren darüber sein, was Familie für einen selbst und den anderen Elternteil bedeutet und welche Priorität man setzen will. Dann können problemlos auch weitere Partner oder Partnerinnen hinzukommen.
Mit einer funktionierenden Kommunikation sind so viele individuelle Konstellationen möglich. Ich kenne zum Beispiel ein schwules Paar, das mit einem lesbischen Paar eine Co-Elternschaft lebt. Sie haben sich zwei Reihenhäuser nebeneinander gebaut und drei Kinder zusammen.