Von Geburt an arm Kinderarmut: Wie alleinerziehende Mutter von drei Kindern aus Bitterfeld-Wolfen das Leben meistert
Jedes fünfte Kind in Sachsen-Anhalt wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Gründe dafür sind vielfältig, die Folgen begleiten viele bis ins Erwachsenenalter. Wie Eltern die Situation meistern und wo sie Unterstützung bekommen können.

Bitterfeld-Wolfen - Ohne finanzielle Hilfen würde sie es nicht schaffen, sagt Alexandra Engel aus Bitterfeld-Wolfen. „So geht es – aber nur, weil ich gut haushalte und schon immer sehr sparsam war.“ Trotzdem kann sie es sich nicht leisten, einmal auszufallen. Denn Engel hat drei Kinder von sechs, acht und fast zehn Jahren, um die sie sich alleine kümmert. „Von meinem Ex-Partner bekomme ich gar keine Unterstützung“, sagt sie. So ist sie – wie viele andere Menschen in Sachsen-Anhalt auch – angewiesen auf staatliche Mittel.
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Dass diese nicht bei jeder Familie alles auffangen können, zeigt die hohe Quote der Menschen, die als arm oder armutsgefährdet gelten: Im Jahr 2021 waren das rund 17 Prozent der Deutschen. Kinder und Jugendliche sind dabei ungleich stärker betroffen als Erwachsene. So gilt laut Statistischem Landesamt aktuell jedes fünfte Kind in Sachsen-Anhalt als arm oder armutsgefährdet.
Die höchste Armutsgefährdungsquote liegt mit 15,8 Prozent in der Altmark, die niedrigste mit 13,5 Prozent in Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg. Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis unter 25 Jahren liegt der Anteil Armutsgefährdeter mit 28 Prozent sogar noch deutlich höher.
Gründe für Kinderarmut in Sachsen-Anhalt: Corona-Krise, Inflation und Energiekrise
Die Gründe dafür kennt Robin Radom, Referent für Jugendpolitik beim Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt: „Kinder- und Jugendarmut muss man immer im Kontext der familiären Situation betrachten“, sagt er. „Es gibt genau genommen keine armen Kinder, sondern nur Kinder, die in armen Familien aufwachsen.“
Ein Grund für die hohe Kinder- und Jugendarmut in Sachsen-Anhalt sei daher sicher die allgemeine Armutsgefährdungsquote, die in Sachsen-Anhalt höher als der Bundesdurchschnitt ist. „Gleichzeitig liegt das durchschnittliche Einkommen hier mit rund 900 Euro unter dem Durchschnittseinkommen der Bundesrepublik“, sagt Radom. Dazu gebe es eine hohe Jugendarbeitslosenquote.“

Gesellschaftliche Entwicklungen, die nicht nur Sachsen-Anhalt, sondern ganz Deutschland betreffen tragen ebenso bei: „Klassische Beschäftigungsverhältnisse werden von atypischen wie Minijobs, Leiharbeit oder Arbeiten im Niedriglohnsektor verdrängt.“ Ein weiterer Punkt sei der Umbau des Sozialstaats, der weniger Sicherungselemente beinhalte.
„Und die Auflösung von klassischen Familienkonstellationen mündet oftmals in schlechterer finanzieller Absicherung – etwa bei Alleinerziehenden“, sagt Radom. Aktuell habe sich die Situation zudem verschärft: Corona-Krise, Inflation und Energiekrise wirken wie ein Brennglas.
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Bestimmte Personengruppen sind laut dem Referenten häufiger betroffen oder gefährdet. „Dabei stehen die verschiedenen Diskriminierungsfaktoren oft miteinander in Wechselwirkung und verstärken sich gegenseitig.“ Alexandra Engel etwa fällt als alleinerziehende Mutter von drei Kindern in gleich zwei Risikogruppen: die der Alleinerziehenden und die der Familien mit drei oder mehr Kindern.
„Alleinerziehende müssen häufiger in Teilzeit arbeiten, um sich um die Kinder kümmern zu können. Gleichzeitig haben sie nur ein Gehalt, von dem sie alles finanzieren müssen“, sagt Radom. „Bei Familien mit drei oder mehr Kindern steigen die Kosten mit jedem Kind an. Trotzdem hat man maximal zwei Einkommensquellen.“
Kinder in Sachsen-Anhalt: Armut heißt nicht immer Obdachlosigkeit und Hunger
Ein hohes Risiko haben auch Menschen mit Migrationshintergrund: „Die ausländische Herkunft zieht oft weitere Probleme nach sich“, erklärt Radom, „etwa die eingeschränkte Anerkennung von Schulabschlüssen oder ein eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt.“ So landeten diese Menschen häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Auch ein niedriger Bildungsstand begünstigt Armut. Der Grundstein dafür wird oft schon in der Kindheit gelegt: „Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche starten später in die Schule, haben während der gesamten Schullaufbahn schlechtere Noten, häufigere Klassenwiederholungen, mehr Schulabbrüche“, sagt Radom. „So haben betroffene Kinder schon von Anfang an schlechtere Bildungschancen“ – wodurch sie selbst ein höheres Risiko hätten, zu armutsgefährdeten Erwachsenen zu werden.

„Viele denken bei Armut noch an Obdachlosigkeit und Hunger“, sagt Radom. „Die Einkommensarmut, um die es geht, bemisst sich eher am aktuellen Lebensstandard in Deutschland.“ So äußere sie sich dadurch, dass Kinder nicht im gleichen Maß wie der Durchschnitt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. „Sie bekommen eher kein oder weniger Taschengeld, machen weniger Familienausflüge oder Urlaube, leben in beengten Wohnverhältnissen, sodass die Kinder kein eigenes Zimmer und damit keinen Rückzugsort haben“, sagt Radom.
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„Und was zunehmend wichtig wird, ist auch die eingeschränkte digitale Teilhabe.“ Etwa wenn ein Kind keinen eigenen Computer habe, erwerbe es oft auch weniger digitale Kompetenzen. „So führt Armut zum Beispiel dazu, dass Betroffene eine Einladung zum Geburtstag ausschlagen, weil sie sich das Geschenk nicht leisten können“, sagt Radom, „oder dass sie aus Scham keine Freunde zu sich nach Hause einladen.“
Folgen der Armut wie Stress und Geldsorgen ziehen sich bis ins Erwachsenenalter
„Der Übergang von der Jugend ins Erwachsenenleben ist eine zentrale Kreuzung, um die Armut zu verlassen“, sagt Radom. „Man braucht in der Regel einen guten Bildungsabschluss und eine gute Orientierung in der Berufswahl, um sich gut in den Arbeitsmarkt zu integrieren. „Studien zeigen, dass zwei von drei Kindern aus einer armen Familie mit 25 Jahren nicht mehr in Armut leben“, sagt Radom.
Aber: „Auch wenn sie die Armut verlassen, haben sie häufig noch Folgen bis ins Erwachsenenalter.“ So wirken sich die finanziellen Sorgen und der damit verbundene Stress ihm zufolge vor allem auf die psychische Gesundheit aus. „Darüber hinaus nehmen Kinder von armutsbetroffenen Familien seltener an Präventivmaßnahmen teil, sodass Krankheiten schlechter vorgebeugt werden.“ Dazu gebe es durch schlechtere Schul- und Ausbildungsabschlüsse das Risiko, dass sich die Armut verstetige – neben den gesundheitlichen Folgen die gravierendste Langzeitfolge.
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Insofern sei es wichtig, Armut nicht zu verharmlosen, sagt Radom. „Viele Menschen, die nicht betroffen sind, vergessen oft ihre guten Startbedingungen. Im Umkehrschluss sind arme Menschen in ihren Augen oft selbst schuld an ihrer Situation. Aber Armut ist kein Zufall oder persönliches Versagen.“ Um Armutsfolgen zu bekämpfen und Jugendlichen einen finanziell abgesicherten Übergang ins Erwachsenenleben zu ermöglichen, sieht Radom vor allem Handlungsbedarf auf politischer Ebene:
„Dazu gehört etwa die Einführung einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Sensibilität bei Lehrenden, gut ausgestattete Unterstützungsangebote in den Kommunen – zum Beispiel kostenlose Jugendclubs, in denen Jugendliche über ihre Ängste und Sorgen sprechen und Hilfe bei verschiedensten Problemen finden.“
Mutter aus Bitterfeld-Wolfen holt sich staatliche Unterstützung
Um ihren Kindern einen guten Start zu ermöglichen, hat sich Alexandra Engel frühzeitig um staatliche Unterstützung gekümmert. „Ich nehme zum Beispiel Essensgeld in Anspruch, was ich über die Arbeitsagentur beantragen kann“, sagt sie. Allerdings kritisiert sie: „Man kriegt nicht unbedingt gesagt, was es alles gibt und wo. Manches muss man beim Jugendamt beantragen, andere Gelder bei der Agentur für Arbeit. Teilweise sind die Fragebögen auch sehr kompliziert.“ Sie sieht deshalb Familienberatungsstellen als eine gute Anlaufstelle, um einen Überblick und Unterstützung zu erhalten.
Gegen Armut: Wo Eltern finanzielle Unterstützung bekommen
Eltern mit wenig Einkommen können Wohngeld oder – bei der Familienkasse – einen Kinderzuschlag zusätzlich zum Kindergeld beantragen. Bei der Bundesagentur für Arbeit gibt es sogenannte Leistungen für Bildung und Teilhabe in Form von Geld oder Gutscheinen: Dabei übernimmt der Staat zum Beispiel die Kosten für den Schulbedarf, Nachhilfe, das Mittagessen in der Kita oder der Schule, für den Sportverein oder die Fahrt zur Schule. Beim zuständigen Jugendamt können Eltern einen Antrag auf die komplette oder teilweise Übernahme der Kita-Kosten stellen.
Für Alleinerziehende gibt es einen zusätzlichen Steuerfreibetrag, den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende. Kindergeld erhalten Eltern normalerweise, bis das Kind 18 Jahre alt ist. Doch auch danach, wenn das Kind eine Ausbildung besucht, studiert, sich gerade in der Bewerbungsphase befindet oder sich arbeitssuchend meldet, können Eltern eine Weiterzahlung des Kindergelds beantragen.