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ADHS im Erwachsenenalter ADHS: Wie eine Mutter mit der Diagnose Neurodivergenz umgeht

ADHS bei Erwachsenen, besonders bei Frauen, wird meist erst spät erkannt. Eine Mutter erzählt, welche Symptome sie hatte und warum es wichtig ist, darüber zu sprechen.

Von Lena Högemann Aktualisiert: 01.09.2025, 16:33
Wenn der Familienalltag zur Dauerbelastung wird: Für neurodivergente Mütter sind Reizüberflutung und Erschöpfung oft Alltag.
Wenn der Familienalltag zur Dauerbelastung wird: Für neurodivergente Mütter sind Reizüberflutung und Erschöpfung oft Alltag. Symbolbild: IMAGO/Phototek

Was passiert, wenn Mütter plötzlich an ihre Grenzen stoßen – nicht, weil sie versagen, sondern weil ihr Gehirn anders funktioniert? Natalia Lamotte hat darüber ein sehr persönliches Buch geschrieben: Chaos, Kinder und Konfetti. Darin zeigt sie, wie ADHS und Autismus sich im Familienalltag äußern – und warum neurodivergente Mütter mehr Sichtbarkeit, Wissen und Unterstützung brauchen. Lena Högemann hat mit der Mutter gesprochen.

Frau Lamotte, in Ihrem Buch geht es um neurodivergente Mütter – was hat Sie dazu bewegt?

Natalia Lamotte: Als ich mich auf den Weg machte, meinen Verdacht auf ADHS abklären zu lassen, und noch mehr, als ich die Diagnose dann tatsächlich hatte, fehlte mir ein Buch, das genau diese spezielle Perspektive einnimmt. Die von Frauen, die nicht viel häufiger erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden, sondern bei denen der Verdacht oft erst in der Mutterschaft entsteht. Unter anderem, weil sie plötzlich mit Anforderungen konfrontiert sind, die frühere Kompensationsstrategien nicht mehr auffangen.

Leider spricht kaum jemand darüber, wie herausfordernd es ist, wenn genau die Erwartungen an Mutterschaft zu den Dingen gehören, die für dich häufig am schwersten zu erfüllen sind. Aber nicht, weil du dich zu wenig anstrengst, sondern weil dein Gehirn anders tickt. Weil dein Nervensystem anders filtert, anders reagiert und anders verarbeitet.

Verlosung: Im kostenlosen Familiennewsletter "Elternecke" verlosen wir das Buch „Chaos, Kinder und Konfetti – was neurodivergente Mütter entlastet, stärkt und ihnen neues Selbstbewusstsein schenkt“.

Viele Leserinnen und Leser verbinden ADHS oder Autismus eher mit Kindern. Warum ist es so wichtig, auch über neurodivergente Mütter zu sprechen?

ADHS und Autismus galten lange Zeit als reine „Kinderkrankheiten“, dabei sind es in Wahrheit gar keine Krankheiten, sondern Varianten neurologischer Entwicklung. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit nahm man an, dass sich die Symptome im Erwachsenenalter einfach auswachsen würden.

Mütter stehen heute in unserer Gesellschaft unter besonders hohem, oft widersprüchlichem Druck und rücken häufig ab der Geburt des Kindes selbst immer weiter in den Hintergrund. Neurodivergente Mütter versuchen dann oft, auch unbewusst, zu maskieren, sich anzupassen und wie neurotypische Mütter zu verhalten. Das kostet enorm viel Energie, bleibt nach außen aber meist unsichtbar.

Was können die Folgen bei Müttern sein, die ihre Diagnose nicht kennen und darauf keine Rücksicht nehmen können?

Nicht selten führt dieser permanente Kraftaufwand in einen Burnout, eine Depression oder eine Angststörung. Alles sogenannte Komorbiditäten, also Begleiterkrankungen, die oft vermeidbar wären, wenn die ADHS- oder Autismusdiagnose früher gestellt worden wäre.

Außerdem wissen wir erst seit kurzer Zeit, dass sich die Symptome in Zeiten hormoneller Umstellungen, wie Schwangerschaft und Wochenbett, verschlimmern können und dadurch eine angepasste Behandlung benötigen. Deshalb ist dieses Thema so wichtig.

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Wie sah Ihr Alltag als Mutter aus, bevor Sie wussten, dass Sie selbst neurodivergent sind – und was hat sich durch die Diagnose verändert?

Ich war abwechselnd unter- und überfordert, hatte große Schwierigkeiten, unseren Alltag zu organisieren und litt unter massiven Stimmungsschwankungen. Dazu kam eine ständige innere Unruhe – mental wie körperlich. Ich fühlte mich getrieben, nie richtig fertig mit irgendwas, nie wirklich erfolgreich in dem, was ich tat.

Am meisten frustrierte mich, dass ich immer wieder die gleichen Fehler machte. Als würde nur ich nicht daraus lernen. Als wäre ich die Einzige, die Zeit grundsätzlich falsch einschätzt oder gedanklich ständig abschweift. Klar, vieles davon passiert auch anderen mal, aber bei mir ist es nicht gelegentlich. Es wiederholt sich. Immer wieder und in Dauerschleife.

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Sie sprechen auch über gesellschaftliche Erwartungen an Mütter. Wo erleben neurodivergente Frauen hier besondere Hürden – und welche Rollenbilder stehen ihnen im Weg?

Frauen hier besondere Hürden – und welche Rollenbilder stehen ihnen im Weg?

Wenn wir uns anschauen, was von Müttern heute erwartet wird, dann merken wir schnell, dass viele dieser Punkte unerfüllbar sind, aber für neurodivergente Frauen besonders herausfordernd: Du sollst emotional verfügbar und ausgeglichen sein, um dein Kind co-regulieren zu können. Gleichzeitig alles im Griff haben: Ernährung, Termine, Struktur und Routinen. Dabei natürlich bindungsorientiert, gut gelaunt, geduldig und aufmerksam sein.

Rollenbilder wie die selbstlose, organisierte und immer ausgeglichene Mutter stehen neurodivergenten Müttern massiv im Weg. Viele von ihnen haben ihr Leben lang gelernt, sich in solche gesellschaftlichen Erwartungen hineinzupressen, oft um den Preis ihrer Gesundheit oder der Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse überhaupt noch wahrzunehmen. Sich davon zu lösen, braucht mehr als nur Mut. Es braucht neue Bilder davon, wie Elternschaft aussehen darf, und vor allem Strukturen, die das fördern und nicht verhindern.

Es braucht neue Bilder davon, wie Elternschaft aussehen darf.

Natalia Lamotte, Autorin

Im Buch finden sich auch Stimmen anderer betroffener Mütter. Warum war es Ihnen wichtig, mehrere Perspektiven einzubeziehen?

Mir war es wichtig zu zeigen, dass es die neurodivergente Person nicht gibt. Wenn du einen Menschen mit ADHS oder Autismus kennst, dann kennst du genau diesen einen Menschen – nicht „alle“. Wir sind Individuen, und ich selbst genieße trotz aller Herausforderungen auch viele Privilegien.

Es gibt Menschen, deren Neurodivergenz sie im Alltag viel stärker einschränkt. Für sie sind manche meiner Vorschläge schlicht nicht umsetzbar und das liegt nicht an ihnen. Mir war es deshalb wichtig, auch diese Perspektiven mitzudenken und ihnen Raum zu geben.

Was wünschen Sie sich von Partnern, Familien und dem Umfeld neurodivergenter Mütter – wie kann Unterstützung wirklich gelingen?

Ich wünsche mir, dass sich Menschen informieren. Sei es durch Eigenrecherche, durch mein Buch oder einfach durch aktives Zuhören. Kommunikation kann so viele Missverständnisse auflösen, gerade dort, wo etwas wie Lustlosigkeit, Faulheit oder Desinteresse wirkt, aber in Wahrheit mit der Reizverarbeitung des Gehirns zu tun hat.

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Allgemein wäre es wünschenswert, den Begriff „normal“ so weit zu denken, dass wirklich alle Persönlichkeiten darin Platz finden und echte Teilhabe möglich wird. Denn, ob jemand als neurotypisch oder neurodivergent gilt, sagt letztlich mehr über die Gesellschaft aus als über die einzelne Person.

Gibt es bestimmte Routinen oder Strategien, die Sie persönlich im Familienalltag als besonders hilfreich erlebt haben?

Nicht wirklich. Ich kann nur dafür plädieren, Dinge auszuprobieren, auch abgeändert, und nicht zu verzweifeln, wenn Strategien immer wieder angepasst, unterbrochen oder komplett umgeworfen werden müssen. Das ist kein Versagen. Das ist Realität.

Und noch etwas ganz Praktisches: Schreib alles auf. Trag jeden Termin ein, egal wie sicher du dir bist, dass du ihn im Kopf behältst. Vertrau mir, du wirst ihn vergessen.

Wenn eine Leserin beim Interview zum ersten Mal von spät entdeckter ADHS bei Frauen hört – was wäre der erste Schritt, den Sie ihr empfehlen würden?

Der erste Schritt wäre, sich weiter zu informieren, idealerweise über fundierte Quellen. Bücher, Podcasts, Selbsttests von seriösen Stellen, vielleicht auch Gespräche mit anderen, die diesen Weg schon gegangen sind.

Und ganz wichtig: Es geht nicht darum, sich eine Diagnose „einzureden“, sondern sich selbst besser zu verstehen. Oft ist das schon entlastend, bevor überhaupt ein offizielles Wort auf dem Papier steht.

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