Facebook Facebook: Ihr erster Fall
Halle (Saale)/MZ. - Kerstin Patzer ahnte nichts Schlimmes, als sie am 19. Juli letzten Jahres ihren Freund anrief und ihn bat, mal auf ihr Online-Konto zu gehen. Sie wollte einfach nur ihren Kontostand wissen. Matteo Alderete schaltete daraufhin den Computer ein - und erstarrte. Auf ihrem Konto waren Abbuchungen von rund 2 500 Euro vorgemerkt, per Kreditkarte.
Matteo Alderete rief seine Freundin zurück. Er bat sie, im Portemonnaie nachzuschauen. Ihre Kreditkarte war weg. Kerstin Patzer konnte sich nicht vorstellen, wann und wo jemand die Karte aus dem Portemonnaie hätte nehmen können. Vielleicht neulich im Supermarkt? Sie ging zum nächsten Polizeirevier und erstattete Anzeige.
Zu Hause sahen sich Kerstin Patzer und ihr Freund den Kontoauszug genauer an. Die Unbekannten hatten eine ausgedehnte Shopping-Tour in Mitte veranstaltet, dort, wo die Läden hip und ziemlich teuer sind: in den kleinen Straßen zwischen Hackeschem Markt und Alexanderplatz. Sie probierten offenbar erstmal aus, ob man mit der fremden Kreditkarte zahlen kann und kauften etwas für 11,95 Euro. Dann ging es richtig los. Zunächst zogen sie durch die Rosenthaler Straße. In einem Schuhladen gaben sie 179,85 Euro aus und in der Weinmeisterstraße kauften sie T-Shirts und Hosen für 535,10 Euro. 390 Euro gingen dann für einen Pullover drauf, 199 Euro für weitere Bekleidung. Bei einem Hut- und Mützen-Handelsgeschäft.
Kerstin Patzer ist nicht reich. Die 26-jährige Erzieherin arbeitet als Religionslehrerin für Kinder in einer Kirchengemeinde. Ihr 35-jähriger Freund Matteo verdient sein Geld als Musiker, er spielt Gitarre.
"Ich war wütend auf mich, dass ich nicht gemerkt habe, wie ich beklaut wurde", sagt Kerstin. Als sie den Betrug bemerkte, rief sie sofort bei der Kreditkartengesellschaft an, um die Karte sperren zu lassen. Die Frau am Telefon sagte ihr, dass sie als Karteninhaberin 150 Euro selbst tragen müsse. Den Rest übernehme die Gesellschaft. Für die ist das billiger, als die Sicherheitsstandards zu erhöhen. Seit Jahren versucht die Polizei vergeblich, Banken und Kartengesellschaften dazu zu bewegen, Karten mit dem Passbild des Inhabers zu versehen und sie nicht mehr per Post zu verschicken.
Es hätte für Kerstin Patzer ein Trost sein können, dass der größte Teil des Schadens von der Kartengesellschaft getragen wird. Doch sie spürte vor allem Wut. "Ich ärgere mich über die Banken", sagt sie. Sie ärgert sich auch über die Verkäufer in den Geschäften, die jede Karte akzeptieren und sich nicht den Personalausweis zeigen lassen. Auf dem Polizeirevier sagte ein Polizist zu Kerstin Patzer, dass es zwei oder drei Wochen dauern könne, bis sich das Landeskriminalamt bei ihr melden würde.
Drei Wochen! Das wollten sie und ihr Freund nicht. Sie beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie fuhren nach Mitte, gingen nacheinander in alle Läden, in denen mit Kerstin Patzers Kreditkarte eingekauft worden war, und fragten die Verkäufer, ob sie sich an die Kunden jenes Nachmittags erinnern konnten. In dem Sonnenbrillen-Geschäft weiß eine Verkäuferin von drei Männern und einer Frau zu berichten. Die Frau sei dunkelhaarig, klein und untersetzt gewesen. Und in ihrer Nase habe ein Piercing gesteckt, erinnert sich ein Verkäufer. Auch in einigen anderen Läden erinnert sich das Personal an die Personen.
In einer Boutique nimmt das Gespräch einen unfreundlichen Verlauf. Die Verkäuferin weigert sich, über Kunden Auskunft zu geben. "Ich will wissen, warum Sie sich nicht auch den Personalausweis zu der Kreditkarte zeigen lassen", sagt Matteo Alderete. Die Verkäuferin droht, die Polizei zu holen.
Am Tag darauf geht das Paar wieder los. Endlich kann in einem Schuhladen eine Verkäuferin eine präzisere Beschreibung einer Gruppe von vier Leuten abgeben. Diese hätte gewirkt, als ob sie unter Drogen standen, sagt sie. Übertrieben fröhlich und cool, aufgekratzt.
In einem Laden an der Rosenthaler Straße bekommt das Paar dann den entscheidenden Beweis. Er erinnere sich an die Leute, sagt der Inhaber. Mit einem von ihnen sei er auch lose bekannt, der junge Mann wohne hier in der Nähe. Es müsste eigentlich ein Überwachungsvideo existieren, sagt er. Ein Volltreffer. Auf dem Film ist zu sehen, wie eine kleine Frau und ein Mann mit auffälligen Backenknochen hereingeschlendert kommen - cool und gut gelaunt, in T-Shirts und kurzen Hosen, weil es an diesem Tag warm ist. Man sieht, wie er den Verkäufer umarmt.
Die an mehreren Stellen im Laden installierten Kameras haben auch aufgenommen, wie die beiden vor den Umkleidekabinen verschiedene Sachen anprobieren, wie er lässig herumläuft, mal die Hände in die Hosentaschen steckt, mal gelangweilt hinter dem Kopf verschränkt, weil er auf seine Freundin mit dem Nasenpiercing warten muss, die in der Umkleidekabine verschwunden ist. Ein dritter junger Mann kommt dazu, er probiert ebenfalls T-Shirts an. Der Hinweis an der Tür des Ladens, dass das Geschäft überwacht wird, hat die Gruppe offensichtlich nicht gestört. Sie scheinen sich sicher zu fühlen. Und auch sonst ziemlich sorglos zu sein. "Die Leute wirken, als ob als sie im Lotto gewonnen hätten, Geld spielt keine Rolle", findet Matteo Alderete. Der Verkäufer kennt den einen Mann nicht nur, und weiß, wie er heißt und dass er 28 Jahre alt ist. Er ist auch auf der Internetportal Facebook mit ihm verlinkt als einer seiner "Freunde". Der Verkäufer brennt dem Paar eine CD des Überwachungsvideos.
Zwei Wochen sind seit der Tat vergangen. Inzwischen hat sich eine Frau vom Landeskriminalamt bei Kerstin Patzer gemeldet. Mit dem Überwachungsvideo gehen sie zum Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm. Die Polizistin hinter dem Schreibtisch freut sich. Mit der Facebook-Seite kann sie aber nichts anfangen, weil der Mann dort nur verzerrt und mit Sonnenbrille zu sehen ist.
Eine weitere Woche später ruft eine Verkäuferin aus einem Accessoire-Geschäft an, wo die beiden ihre Nummer hinterlassen hatten. Sie kann sich an die Frau mit dem Nasenpiercing erinnern und an einen Mann mit Sonnenbrille und auffällig hervorstehenden Backenknochen. Sie weiß sogar, wo er wohnt, und sie kennt seine Schwester. Später wird sie die Schwester anrufen, damit diese ihren Bruder überredet, sich der Polizei zu stellen - leider erfolglos.
Kerstin Patzer und ihr Freund gehen zu der Wohnung. Aber sie klingeln nicht. Sie gehen wieder nach Hause und machen den Computer an. Matteo Alderete geht auf die Facebook-Seite und fragt bei Freunden des Mannes per Mausklick an, ob er auch ihr "Freund" sein könne. Seine Anfrage wird akzeptiert. Über die sogenannte Pinnwand kommen Patzer und Alderete auf ein kleines Foto der Frau mit dem Nasenpiercing. Sie gehen nochmal zur Polizei und liefern das Bild dieser Frau und die Wohnadresse ihres Freundes.
Mithilfe von Alderetes Anmeldung kann nun auch die Polizei im Profil des mutmaßlichen Täters wie in einem Buch lesen. Über den Internetanbieter ermittelt die Polizei die Identität der Frau mit dem Nasenpiercing: Sie ist 24 Jahre alt und lebt in Friedrichshain. Nun erwirkt die Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss und findet in der Wohnung der Frau die gekauften Kleidungsstücke. Die junge Frau gibt sofort alles zu. Auch bei ihrem Freund wird durchsucht. Er lebt in einer teuren Wohnung, auch bei ihm finden die Polizisten Hemden, Jacken und Hosen, die aus dem Kreditkartenkauf stammen.
Die Polizei weiß noch nicht, ob die beiden die Kreditkarte gestohlen oder sie anderen Dieben abgekauft haben. Der Hehlermarkt für geklaute Kreditkarten ist groß. Die beiden behaupten, sie hätten die Karte gefunden. Seit der Razzia haben Kerstin Patzer und Matteo Alderete nichts mehr von der Polizei gehört. Für die ist der Fall erledigt. Sie hat ihn der Staatsanwaltschaft übergeben. Die bereitet eine Anklage wegen Betrugs vor.