1. MZ.de
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. Ernährung: Ernährung: Nischenprodukt Rohmilchkäse

Ernährung Ernährung: Nischenprodukt Rohmilchkäse

25.04.2003, 09:24
Rohmilchkäse. (Foto: dpa)
Rohmilchkäse. (Foto: dpa) Verkehrs- und Kneippverein Niehe

Straßburg/Bonn/dpa. - Gourmets geraten bei Rohmilchkäse ins Schwärmen, andere wiederum beäugen ihn als mögliche Gesundheitsgefahr mit Misstrauen. Für den Affineur Rene Tourrette aus Straßburg, einen der wenigen Käseverfeinerer Europas, sind die bäuerlich hergestellten Spezialitäten aus unbehandelter Schaf-, Ziegen- oder Kuhmilch kleine «Lebewesen», die es zu hegen und pflegen gilt. Zwar sind die Delikatessen ein statistisch nicht erfasstes Nischenprodukt, aber in qualitätsorientierten Käsetheken finden sich zahlreiche Sorten. Denn auch strikte EU-weite Hygienevorgaben konnten Rohmilchkäse nicht den Garaus machen.

Käse aus pasteurisierter Milch, die kurz auf 90 Grad erhitzt und wieder abgekühlt wurde, kommt dem elsässischen Käsemeister Rene Tourrette nicht in den Reifekeller. «Nur Rohmilchkäse ist lebendig. Solange er nicht gegessen wird, lebt er und verändert sich.» Alles andere sei ein Lebensmittel mit Haltbarkeitsdatum, aber kein Genussmittel. Bei der Pasteurisierung werden zwar alle schädlichen Keime abgetötet, jedoch auch der Geschmack der Milch nivelliert. Denn ähnlich wie beim Wein bestimmen das Futter der Tiere und der Boden, auf dem es wächst, die Aromen der Rohmilch und des späteren Käse. Silage und Hochleistungstiere sind bei Käsepuristen verpönt.

«Rohmilchkäse hat eine lange Tradition und wird auch eine Zukunft haben», erklärt Eckhard Heuser vom Bundesverband Molkereiprodukte in Bonn. Der größte Lieferant des kleinen Marktsegments in Deutschland sei Frankreich. So beziehen beispielsweise Sterneköche ihre Käse überwiegend von französischen Affineuren, die diese im jungen Zustand bei handverlesenen bäuerlichen Produzenten einkaufen und mit viel Sorgfalt veredeln.

Bei Tourrette reifen auf 450 Quadratmetern mehr als 160 verschiedene Sorten kleiner oder größerer Käselaibe. Seine Kunst, die viel mit Erfahrung und nicht unerheblich mit Mikrobiologie zu tun hat, vollendet das Handwerk der Bauern. Auf dem Bauernhof aus hofeigener Milch in traditioneller Weise hergestellt, lagern die Käse im Straßburger Keller bei kontrollierter Temperatur und Luftfeuchtigkeit - je nach Reifezeit einige Tage bis mehrere Monate, damit die anfänglich kreidige Käsemasse cremig wird. Jede Sorte erfährt ihre eigene Behandlung. Dann wird gewendet, gebürstet, gewaschen und bisweilen mit Kräutern oder Spirituosen geschmacklich verfeinert.

Blauschimmelkäse wie Roquefort aus Schafsmilch muss mindestens zehn Monate reifen. «Die meisten werden zu jung verkauft. Dann ist der Geschmack aggressiv, und der Teig zerbricht», sagt Tourrette. Edelschimmelkäse wie Camembert de Normandie oder Brie von der Ile de France, die von außen nach innen reifen, seien erst ab Juli besonders schmackhaft. Denn Sommer- und besonders Herbstmilch, wenn die Tiere frisches Gras und Kräuter fressen, ergeben den besten Käse.

Schafs- und Ziegenkäse werden mit Holzasche gepudert, in Blätter verpackt, in Schnaps oder Bier getränkt. Aber nicht im Winter, denn dann sind die Tiere mit dem Nachwuchs beschäftigt, und es gibt keinen Käse. Die Familie der Rotschmierkäse, deren rote Oberfläche durch aufgesprühte Linens-Bakterien entsteht, muss regelmäßig in Salzlake oder Alkohol gebadet und gerieben werden. Bergkäse wie Allgäuer Emmentaler, der auf einer Alm zwischen Mai und September hergestellt wurde, reift mindestens 14 Monate von innen nach außen. Auch er muss feucht gehalten werden.

Für Franzosen, Italiener und Spanier gehören die regional sehr unterschiedlichen Käsesorten aus Rohmilch zum schützenswerten kulinarischen Kulturerbe. Hier zu Lande nimmt die Zahl handwerklicher Käsereien, die nicht im Stil großer Molkereien ausschließlich mit pasteurisierter Milch arbeiten, erst allmählich wieder zu. «Rohmilchkäse gibt es bei uns nur dort, wo vom Futter von der eigenen Weide über Melken bis hin zur Käserei alles in einer Hand liegt. Denn bei Sammelmilch tut man besser daran, die Milch zu pasteurisieren», erklärt Detlef Möllgaard vom Verein Käsestraße Schleswig-Holstein in Kiel. Die Rohmilchprodukte werden ab Hof verkauft.

Rohmilchkäse brauche eine natürliche Umgebung, damit er sich entwickeln kann, betont Affineur Hanns Stähle aus Freiburg. Die vorherrschende Bakterienphobie sei sein Untergang. Die Erfahrung von Fachleuten und deren Pflege verhindert seiner Ansicht nach eine bakterielle Gefährdung. Schwangeren, Kleinkindern und immungeschwächten Menschen rät Günther Hahn von der Bundesanstalt für Milchforschung in Kiel allerdings dringend vom Genuss ab. Im Unterschied zu durchgereiften Hartkäse ist nach Aussage von Eckhard Heuser besonders Weichkäse mit seinem relativ hohen Feuchtigkeitsgehalt mikrobiologisch anfällig.

Für die klassische Käseplatte gilt: Begonnen wird mit einem Ziegen- und Schafskäse, empfiehlt Tourrette. Um die Geschmacksnerven zu neutralisieren, folgt ein frischer Weichkäse. Die Steigerung bis zum würzigen Höhepunkt in Form eines Blauschimmelkäses geht weiter über Hartkäse, reifen Camembert oder Brie hin zu einem Rotschmierkäse. Ob die Naturrinde mitgegessen wird, ist Geschmackssache. Hanns Stähle rät allerdings, sie aus Vorsichtsgründen wegzuschneiden.

Alles Fruchtige wie Weintrauben, Senffrüchte, Chutneys oder Feigensenf ist der passende Begleiter auf dem Käsebrett. Sind die Gäste gegangen, werden die Reste nach Sorte getrennt im Originalpapier oder Folie verpackt im Gemüsefach des Kühlschranks aufbewahrt. Damit sich seine Aromen entfalten können, sollte Käse immer eine Stunde vor Verzehr aus der Kälte geholt werden.