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Drag Kings verschieben Grenzen der Geschlechter

Von Christiane Jacke 03.12.2004, 09:52

Münster/dpa. - Sie tragen Männerkleidung und Bärte, sitzen breitbeinig und schauen Frauen hinterher. Sie imitieren Männlichkeit - mal übertrieben, mal persifliert, mal täuschend echt. Drag Kings sind Frauen, die in Männerrollen steigen.

Die einen machen es nur auf der Bühne, für einen Abend, die anderen für ihr ganzes Leben. Was für Außenstehende exotisch und schräg daherkommt, als Spielerei und Show heruntergespielt wird, ist für die Drag Kings wesentlich mehr: «Es ist ein bewusstes Unterlaufen fester Geschlechterbilder», erklärt Elisabeth Tuider, Soziologin an der Universität Münster.

Anfang der 90er Jahre aus der angloamerikanischen Lesbenszene entstanden, breiten sich die Drag Kings mittlerweile in Europa aus. In Deutschland hat es mit einzelnen Plattformen im Internet begonnen. Hinzu kamen Auftritte, Stammtische, Partyreihen, Workshops. Heute gibt es Dokumentarfilme, Festivals, spezielle Zeitschriften und wissenschaftliche Forschung zum Thema. «Ein echter Flächenbrand», meint Johnny, ein Drag King aus Berlin. Die Hauptstadt ist die Metropole der Drag-Szene. Seit Jahren tritt Johnny dort als Drag King auf, schlüpft in die Rollen von Archetypen der Männlichkeit - des Macho, des Dandy, von Figuren wie Elvis Presley - und zerlegt diese Stereotype, indem er die Maskerade an einem bestimmten Punkt fallen lässt. «Es geht darum, diese Bilder zu brechen und Erwartungen, die aufgebaut werden, nicht zu erfüllen», sagt Johnny.

Seit vier Jahren leitet er Workshops für Drag Kings. Diesmal gibt er einen Kurs in Münster, organisiert von Elisabeth Tuider und dem Lesbenreferat der Universität Münster. An zwei Tagen lernen die Teilnehmerinnen die Techniken der Verwandlung von Frau zu Mann - von falschen Bärten und Krawattenknoten über das Abbinden der Brust bis hin zur männlichen Körpersprache. Wo bekomme ich die Utensilien her? Wie werden Männer in der Gesellschaft wahrgenommen?

Am ersten Tag kommt die Theorie, am zweiten der Praxis-Test: Die neun Teilnehmerinnen gehen nach der Verwandlung auf die Straße und beobachten, ob ihre Rolle «funktioniert». Die meisten werden kaum beachtet - ihre Verwandlung scheint erfolgreich. Andere werden aufmerksam beäugt - keine Überraschung meint die zweite Kursleiterin Sheva aus Berlin: «Bei den Verwandlungen entstehen zum Teil Männertypen, die auf eine Bühne oder auf eine Party passen, nicht aber am Sonntagnachmittag auf die Straße in Münster.»

Sheva hat selbst eine Verwandlung hinter sich. Sie fühlte sich ihr Leben lang im falschen Körper eingesperrt, fand in der äußeren Verkleidung eine erste Lösung, aber keine ausreichende. Sie wechselte schließlich ihr Geschlecht und ist heute eine Frau. Einigen Drag Kings geht es ähnlich. Nicht alle empfinden sich selbst als Frauen. Gerade diejenigen, die auch im Alltag in der Männerrolle leben, fühlen sich weder männlich noch weiblich. Ihr Gefühl liegt irgendwo dazwischen.

«Der Reiz beim Cross-Dressen lag für mich anfangs darin, zu sehen, wodurch Menschen in ein bestimmtes Geschlecht eingeordnet werden», sagt Sheva. Die Motivationen derer, die eine Verwandlung ausprobieren, sind sehr unterschiedlich. Auch an diesem Wochenende. Einige wollten schon immer mal in die andere Geschlechterrolle schlüpfen. Andere fühlen eine unbestimmte Männlichkeit in sich und wollen sich selbst erproben. Wieder andere haben sich theoretisch mit dem Thema Geschlechterforschung auseinander gesetzt und wollen wissen, ob die Stereotype und Mechanismen im Umgang der Geschlechter tatsächlich existieren. «Egal vor welchem Hintergrund die Leute teilnehmen, merkt man, dass der Workshop ihnen neue Perspektiven eröffnet», sagt Johnny.

Eine ist die Erfahrung, dass Männer mit Männern anders umgehen als mit Frauen - und umgekehrt. Oder dass Menschen irritiert sind, wenn sie das Gegenüber nicht in ein Geschlecht einordnen können. «Das macht den Leuten Angst», sagt Sheva. «Sie brauchen die Einordnung, um zu wissen, wie sie auf einen Menschen reagieren sollen.»

Irritation hat es beim Aufkommen der Drag Szene genügend gegeben - den Hype des Unbekannten, Unverständnis, Medienzirkus, Sensationslust. «Mittlerweile ist die Entwicklung auf dem richtigen Weg», sagt Johnny. «Viele Menschen, die schon länger so leben, haben jetzt einen Namen bekommen und wissen, dass sie nicht allein sind.»