Punktesystem für Verkehrssünder Punktesystem für Verkehrssünder: Warum Autofahrer ermahnt werden obwohl Punkte in Flensburg bereits verfallen sind

Halle (Saale) - Wer auf der eiligen Fahrt zu einem wichtigen Termin mit 55 Kilometern in der Stunde durch eine 30-er Zone gezischt ist, wundert sich kaum, wenn er ein paar Wochen später Post bekommt. „80 Euro und ein Punkt in Flensburg waren nicht so überraschend“, sagt der Hallenser Jochen Kraft, „das hatte ich mir vorher schon so zusammengegoogelt“.
Unverhofft kam dann aber ein zweiter Brief von der Kfz-Zulassungsstelle, sechs Monate später. Die wies Kraft mit einer „Ermahnung wegen wiederholter Zuwiderhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften“ darauf hin, dass er durch den einen Punkt, den ihm seine Eilfahrt eingebracht hatte, nun über insgesamt vier Flensburg-Punkte verfüge. Kraft solle, so riet das Schreiben, am besten gleich losziehen und ein Fahreignungsseminar besuchen. „Damit könne ich mein Verkehrsverhalten verbessern und außerdem Punkte abbauen“, zitiert der Hallenser.
Gebühren für einen ungebetenen Brief?
21,35 Euro Gebühren sollte ihn der Service kosten - obwohl drei der vier angeblichen Strafpunkte im Zeitraum zwischen der letzten Zuwiderhandlung und dem Eintreffen des Warnbriefes bereits automatisch verfallen waren. Vielfahrer Kraft, der eigentlich ein wenig anders heißt, ist sauer. Er hat Widerspruch eingelegt, denn „schließlich habe ich nicht um eine Belehrung gebeten, ich weiß doch selbst, wie viele Punkte ich habe“. Seit mehr als 27 Jahren fahre er Auto, nie sei er auch nur in der Nähe eines Fahrverbotes gewesen. „Und nun soll ich für einen Brief horrende Gebühren bezahlen, um den ich nicht gebeten habe.“
404 Ermahnungen in Mansfeld-Südharz
Kraft staunt, und er ist bei weitem nicht der Einzige. Als der Bundesgesetzgeber die Verkehrssünderdatei 2014 reformierte, ging der Paragraf 4 Absatz 5 Ziffer 1 zu den von der nach Landesrecht zuständige Behörde zu treffenden „Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde“ öffentlich unter. Hinter den Kulissen aber entfaltet die Regelung erstaunliche Wirkung: So verschickte die Fahrerlaubnisbehörde Magdeburg zwischen Mai und November 353 Ermahnungen und Verwarnungen, in Dessau-Roßlau gingen 240 Ermahnungen und 68 Verwarnungen raus, in Halle bekamen 366 Inhaber einer Fahrerlaubnis Post. Der Kreis Mansfeld-Südharz musste sogar 406 Ermahnungen und 90 Verwarnungen verschicken, so Sprecher Uwe Gajowski.
Viel Arbeit für die Behörden, wie es im Landesverwaltungsamt in Halle heißt. Hier dauert die Bearbeitungszeit der gegen die pauschal verteilten Kostennoten der Fahrerlaubnisbehörden eingehenden Widersprüche „aufgrund der Vielzahl von vorliegenden Widerspruchsverfahren“ mittlerweile rund drei Monate, obwohl das Ergebnis jeweils fest steht. Egal, wie viele Punkte zwischen Erreichen der Warnschwelle und Eingang des Warnbriefes von selbst verfallen sind, die Behörde ist verpflichtet, zu schreiben. Und der Fahrerlaubnisinhaber muss es bezahlen.
Auf der nächsten Seite: Ein Millionengeschäft für das Verkehrsministerium, die den deutschen Autofahrer etwa zehn Millionen Euro kostet. Und warum Widerspruch zwecklos ist.
Ein Millionengeschäft, wenn die Zahlen aus Sachsen-Anhalt auf ganz Deutschland hochgerechnet werden. 230.000 bis 240.000 Ermahnungsbriefe dürften danach allein in den ersten sechs Monaten nach Einführung der neuen Ermahnungspflicht verschickt worden sein, von sogar 250.000 spricht der ADAC. Die deutschen Autofahrer belastet die neue Fürsorge-Maßnahme des Verkehrsministeriums damit jährlich mit rund zehn Millionen Euro.
Und das ist erst der Anfang. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Maßnahmen erheblich steigen wird. Nach Einschätzung der Führerscheinstelle im Mansfelder Land führt die Umstellung dazu, „dass die Punkteabstände, an denen die Behörde tätig werden muss, geringer geworden sind“. Zwar habe es die Maßnahme der Ermahnung auch nach dem alten Punktesystem gegeben, erläutert ADAC-Verkehrsexperte Markus Schäpe. Damals wurden Ermahnungen bei acht Punkten verschickt, heute schon bei vier. „Bei bis zu 18 Punkten war sowohl für den Verkehrsteilnehmer als auch für die Behörde einfach mehr Spielraum als bei eins bis acht Punkten“, erklärt Gajowski. Ein zusätzlicher Verwarnpunkt im neuen System löse künftig mehr Aktivitäten seitens der Behörde in Richtung des betroffenen Verkehrsteilnehmers aus, als im alten System.
Höherer Aufwand für die Behörden, höhere Kosten für Autofahrer - doch aus Sicht von Schäpe führt das keineswegs zu der beabsichtigen verstärkten Teilnahme an Fahreignungsseminaren. Zwar seien noch keine Zahlen verfügbar, doch „wir gehen davon aus, dass deutlich weniger Personen teilnehmen, da sich die Kosten für die Aufbauseminare etwa verdoppelt haben.“
Beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg ist für diesen Trend noch keine Bestätigung zu bekommen. Die Einträge in das Verkehrszentralregister, das jetzt Fahreignungsregister heißt, würden zwar regelmäßig ausgewertet, sagt Sprecher Stephan Immen. Die aktuellsten Zahlen stammten jedoch aus dem Jahr 2013, weil die Auswertung für 2014 erst im August fertig sein werde. Ob die 2013 ausgesprochene Zahl von 180 000 Verwarnungen durch die Neuregelung signifikant gestiegen sei, werde aber vielleicht auch dann nicht gesagt werden können. „Vor dem Hintergrund der Systemumstellung kann ich nicht beurteilen, ob die Anzahl der Ermahnungen im kommende Heft ausgewiesen werden kann.“
Widerspruch ohne Chance
Fest steht indes, dass es für Autofahrer kaum Sinn macht, gegen die Ermahnungsbriefe Widerspruch einzulegen. „Das hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der Behörde bei der Punktebewertung ein Fehler unterlaufen ist, also bereits getilgte Taten einbezogen wurden“, betont ADAC-Experte Schäpe.
Das war bei Jochen Kraft zwar der Fall, doch nur in seiner Wahrnehmung. Obwohl in den fünf Monaten zwischen seiner letzten Strafe und dem Erhalt des Warnbriefes so viele seiner Punkte verfallen waren, dass er nicht mehr hätte ermahnt werden müssen, befand das Landesverwaltungsamt, die Ermahnung sei korrekt erfolgt. Es habe einen Moment gegeben, an dem Kraft die Grenze überschritten gehabt habe, bei der automatisch gemahnt werde. Dass ihn die Ermahnung erst erreichte, als das schon nicht mehr der Fall war, spiele für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme keine Rolle. Kraft hat seinen Widerspruch zurückgezogen und die fälligen Gebühren bezahlt. (mz)