Mercedes SL der siebziger Jahre
Stuttgart/dpa. - Normalerweise läuft die Sache so: Wenn ein Automodell seine Karriere als Neuwagen vom Band hinter sich hat, verwittern die verbliebenen Exemplare über die Jahre auf den Gebrauchtwagenplätzen.
Und wenn dann kaum noch eines übrig ist, wird das Auto nach Jahrzehnten vielleicht zum Klassiker. Beim Mercedes SL der intern R 107 genannten Baureihe allerdings sollte alles ganz anders kommen. Als das Modell 1971 auf der Bildfläche erschien, fanden es nicht wenige schlicht und einfach grässlich. Doch als sein Dasein als Neuwagen nach sagenhaften 18 Jahren endete, war er im Grunde schon längst zum Klassiker avanciert.
Im Jahr 1971 hießen sportlich kompakte BMW noch 02, rollte bei Opel der Kadett B vom Band und schauderten VW-Käufer beim Anblick des langnasigen VW 411. Bei Mercedes wiederum galten die Limousinen der so genannten Strich-Achter-Baureihe als aktueller Stand der Technik. Im Frühjahr jenes Jahres also schob Mercedes ein Auto ins Rampenlicht, das den bisherigen Pagoden-SL ersetzen sollte. Dieser besaß seinen Spitznamen wegen des in der Mitte nach unten gewölbten Hardtops.
Wer nun allerdings für den neuen SL eine behutsame Pflege des bekannten und beliebten Erscheinungsbildes erwartete, wurde enttäuscht. Was blieb, war allein die ungewöhnliche Wölbung im Hardtop. Ansonsten wurden so gut wie alle Design-Richtlinien des Hauses umgekrempelt. Zu diesem Zeitpunkt war ein Mercedes in der Regel an aufrecht stehenden Scheinwerfern zu erkennen - beim neuen SL waren sie quer liegend installiert. Und während die übrige Modellpalette noch mit rundlich bauchigen Kotflügeln umherfuhr, war hier alles sachlich, schlicht und gerade.
Aus heutiger Sicht erinnert der SL stark an die S-Klasse der siebziger Jahre. Die allerdings kam erst ein Jahr später auf die Straßen. So war es der SL, der die typische Mercedes-Linie des Jahrzehnts einführte. Das gilt für die kantig schlichte Frontpartie ebenso wie für das Heck mit den geriffelten Leuchten. Diese wurden damals als zukunftsweisende Entwicklung gepriesen. Sollte doch die unebene Oberfläche dafür sorgen, dass Schmutz die Leuchten nicht komplett überzog. Dass der untere Bereich der Türbleche ebenfalls geriffelt war, ließ allerdings manchen vermuten, man habe aus Kostengründen zu Wellblech gegriffen.
Mit dem Ursprung des Kürzels SL und dessen Tradition hatte man in Stuttgart mit Einführung des Neuen Schluss gemacht. Denn statt sportlich-leicht oder super-leicht konnte der kommende SL bestenfalls als sportlich-luxuriös oder einfach schwer und luftig gelten. Schließlich stand da ein echter 1,5 Tonner im Rampenlicht. Und abgesehen von der Beschränkung auf zwei Sitzplätze musste nicht auf den Komfort einer Oberklasse-Limousine verzichtet werden.
Natürlich hieß dies nicht, dass keine ordentlichen Fahrleistungen möglich waren - nur musste dafür eben nicht gelitten werden. Angetrieben wurde der Roadster anfangs immerhin von einem V8-Motor mit 3,5 Litern Hubraum und 147 kW/200 PS. Genug Leistung also, um den 350 SL auf 210 Stundenkilometer (km/h) zu beschleunigen.
Im Oktober 1971 hatte Mercedes auf dem Pariser Automobilsalon gleich die nächste Überraschung bereit: Dem offenen SL folgte mit dem SLC genannten Coupé wieder eine neue Idee: Bisher hatte man die Oberklasse-Coupés immer auf Basis der entsprechenden Limousinen entworfen. Nun musste der Roadster herhalten. Das Ergebnis wurde nicht von allen als gestalterischer Glücksgriff angesehen. Grundsätzlich behielt der SLC die vom Roadster bekannte Grundform bei, übernahm auch kritisierte Details wie das geriffelte Blech an den Türen.
Daneben allerdings wuchs der Radstand des SLC um 36 Zentimeter, so dass drinnen bis zu vier Personen Platz finden konnten. Dass die Entwickler einen Teil des hinteren Seitenfensters mit einer Art Lamellengardine versahen, um ungünstige Proprotionen des Coupés zu tarnen, ließ so manchen stärker noch als beim SL die Nase rümpfen.
In den folgenden Jahren ging bei den ungleichen Schwestermodellen die Entwicklung parallel weiter. So gab es für Leistungshungrige ab 1973 einen stärkeren V8-Motor mit 4,5 Litern Hubraum und 165 kW/225 PS. Im darauf folgenden Jahr drehte sich die Leistungsspirale dann um: In Zeiten der Ölkrise verlangte die Kundschaft nach sparsameren Aggregaten - also hielt ein Reihensechszylinder mit 2,8 Litern Hubraum und 136 kW/185 PS Einzug.
Dass die Leistungs-Wünsche schnell wieder in die andere Richtung ausschlagen können, zeigte sich 1977. Das Coupé-Topmodell wurde zum Leistungsträger. Im Motorraum des 450 SLC 5.0 fand sich ein 5,0-Liter-V8-Motor mit 176 kW/240 PS. Damit die Maschine keine allzu schwere Last mit der Karosserie zu tragen hatte, wurden Motorhaube, Kofferraumdeckel und die Stoßfänger aus leichtem Aluminium gefertigt.
Im SL kam der große Motor erst 1980 zum Einsatz. Das Jahr brachte Coupé und Roadster außerdem eine neue Innenausstattung im Stil der S-Klasse-Limousinen ein. Wovon Coupé-Käufer allerdings nicht lange profitieren konnten, denn der SLC wurde 1981 eingestellt. Und anders als der Roadster gelangte er schnell in die Hände jener Autofahrer, die lieber in einen Satz breiter Leichtmetallfelgen als in eine ordentliche Inspektion investieren.
Beim SL war vom Ruhestand dagegen noch lange nicht die Rede. Neben dem einen oder anderen Wechsel bei den Motorisierungen stand 1985 noch ein weiteres Facelift an. Das zeigte sich zwar vornehmlich in einem veränderten Frontspoiler und einem neuen Design der Räder. Es führte aber auch zur Rückkehr einer klassischen Modellbezeichnung: Ein Dreiliter-Sechszylinder gab Mercedes die Möglichkeit, das Schild 300 SL an den Kofferraumdeckel zu schrauben, wie einst bei dem legendären Flügeltürer. Die Überarbeitung führte auch dazu, dass unter dem Blech des Siebziger-Jahre-Klassikers vieles von der Technik einzog, die heute noch ein aktuelles Auto ausmacht. So konnten später SL mit ABS, Katalysator und Fahrerairbag geordert werden.
Das Aus der Baureihe R 107 kam erst an der Schwelle zur automobilen Neuzeit im Jahr 1989. 18 Jahre Bauzeit machten ihn konkurrenzlos im Pkw-Programm von Mercedes. Selbst wer ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich für einen Klassiker hielt, glaubte daran, dass er genau das aber bald werden würde. Der Autor Fritz B. Busch schrieb zum Abschied von dem Roadster: «Erst in fünf Jahren sehen wir klar, in zehn Jahren glasklar, und in 15 Jahren sind wir bereit, uns stundenlang dafür zu ohrfeigen, dass wir ihn damals, als er noch zu einem ganz normalen Preis zu haben war, nicht begriffen haben.» Das war vor 15 Jahren.