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Zum Tod von Pierre Bourdieu Zum Tod von Pierre Bourdieu: Lautstark gegen Müdigkeit des Intellektuellen

Von Christian Eger 24.01.2002, 14:28
Pierre Bourdie
Pierre Bourdie dpa

Paris/dpa. - Allpräsent schien der Inhaber des Soziologie-Lehrstuhlsam Pariser "Collège de France", allzuständigund - allgebildet. Nicht wenige Kollegen winktenab; verärgerte Leser hielten ihn bereits fürden Ulrich Beck Frankreichs - einen Denker,der zuweilen trendbewusst Gemeinplätze medialverstärkt als verblüffende Einsichten streut.Dieser Eindruck war so naheliegend wie falsch.In den letzten fünf Jahren zeigte Bourdieu,dass seine Energie nicht allein rhetorischerNatur war.

In einer Zeit, in der das politischeDenken und Urteilen aus der öffentlichen Sphäreder Politik wie durch ein Luftloch abzischt,in der Europas Intellektuelle müde und melancholischauf ihre Kopfkissen zurückkippen, da gründete er 1996 die Soziologen-Gruppe "Raisonsd'Agir" (Gründe zum Handeln), den Verlag "Liber" -der Bourdieus Polemik "Über das Fernsehen"in einer Bestsellerzahl von 100000 Exemplarenabsetzte - und schrieb 1998 das "Le Monde"-Manifest"Für eine Linke links der Linken", also -wie er meinte - links von den regierendenGrünen, Sozialisten und Kommunisten.

Bourdieu, der meistzitierte WissenschaftlerFrankreichs, zeigte sich fortan nicht allgefällig,sondern nervend und anregend dreinsprechend -in eine Stille hinein. Er forderte - was plötzlichkeine Banalität mehr schien - dazu auf, gesellschaftlicheVerhältnisse nicht als naturwüchsig anzusehen,warb für ein weltweites Basis-Bündnis gegendie Folgen der Globalisierung.

Im Mittelpunkt seiner jahrzehntelangen Forschungenstand die Analyse von Herrschaftsstrukturen,auch seine eigene Gilde verschonte er nichtin fleißigen Ermittlungen wie "Die feinenUnterschiede" oder "Die Intellektuellen unddie Macht". Seine Kollegen nannte er Mitläufer,er forderte "kritische Denkfrabriken, dieInstrumente zur Verteidigung der symbolischenHerrschaft", der Kultur also, liefern.

ImApril 2000 schlug Bourdieu in Berlin vor,die "Generalstände der sozialen Bewegungenin Europa" einzuberufen, um eine "Charta"zur Abwehr des Neoliberlismus zu verfassen,gegen eine "entpolitisierte Politik", diesich "schamlos eines Vokabulars der Freiheit"bedient, aber die Politik entpolisiert unddie Ökonomie entfesselt. Bourdieu, hier ganzAvantgarde, hatte keine Scheu davor, dassIdeen dazu neigen, sich vor Interessen zublamieren. Er war einer, der es ernst meintemit der Rolle seines Amtes in der Welt. AmMittwoch ist Pierre Bourdieu im Alter von71 Jahren in einem Pariser Krankenhaus anKrebs gestorben.