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Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Zeitgeschichtliches Forum Leipzig: In der Heldenstadt werden Mythen untersucht

Von Kai Agthe 22.06.2016, 16:48
Ein Pkw steht in Leipzig stellvertretend für den Mythos vom westdeutschen Wirtschaftswunder: der VW Käfer aus dem Jahr 1955
Ein Pkw steht in Leipzig stellvertretend für den Mythos vom westdeutschen Wirtschaftswunder: der VW Käfer aus dem Jahr 1955 DPA

Leipzig - Bevor man etwas sieht, ist eingangs etwas zu hören: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt…“ – den Rest des Zitats kann man auch dann vervollständigen, wenn man nicht Zeuge des Endspiels der Fußball-WM von 1954 gewesen ist. Denn im kollektiven Gedächtnis ist der hier ausgesparte vierfache Ausruf „Tor!“ des Sportreporters Herbert Zimmermann ebenso präsent wie der WM-Sieg der deutschen Fußballer vor zwei Jahren in Rio de Janeiro.

„Das Wunder von Bern“, wie der 1954er deutsche Weltmeistertriumph genannt wird, ist ein zentraler deutscher Mythos aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und steht deshalb auch am Anfang der aufwendig inszenierten Ausstellung „Deutsche Mythen seit 1945“, die im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu sehen ist.

Nationen brauchen Mythen

„Mythen verdichten, ordnen und vereinfachen das kaum überschaubare Geschehen der Geschichte zu sinnstiftenden Geschichten“, sagt Daniel Kosthorst, der Projektleiter der Schau. Geschichten mithin, die aus historischen Erfahrungen Identität und Zuversicht für die Zukunft schaffen sollen. Jede Nation hat ihre Mythen, und jede Nation braucht ihre Mythen. Das war im 19. Jahrhundert nicht anders als in unserer Gegenwart. Allerdings haben Mythen nicht zwingend eine lange Halbwertszeit. Hatten vor 100 Jahren der Cherusker Hermann als Befreier Germaniens und Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser als Wahrer des deutschen Reichs mythische Bedeutung für das deutsche Nationalempfinden, brach diese Tradition nach dem Missbrauch im Nationalsozialismus und der katastrophalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg ab. Im Begleitbuch zur Ausstellung spricht der Historiker Herfried Münkler vom „Mythenschnitt 1945“.

Aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs wuchsen mit der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zwei deutsche Teilstaaten, die ganz eigene Mythen ausbildeten. Diese tradierten Geschichten werden in der Leipziger Schau einander gegenüber gestellt. Dazu bedient man sich einer Architektur, die angelehnt ist an jenes Kojensystem, das man von Messen kennt. Der Mythos von der „Stunde Null“ im Westen etwa geht einher mit „Sieg und Befreiung“ im Osten, dem Mythos vom „Wirtschaftswunder“, das der jungen Bundesrepublik auf die Beine half, der vom „Arbeiter- und Bauernstaat“, als den sich die DDR feierte, obwohl allein die SED das Sagen hatte.

900 Exponate in Leipzig

Durch diese Gegenüberstellung bekommt man ein Gefühl für das Funktionieren von Mythen in einer Demokratie wie der, die sich ab 1949 in der Bundesrepublik ausbilden konnte, und einer Diktatur wie jener im Ulbricht- und Honecker-Staat. Beispiele, die auch schlaglichtartig verdeutlichen, dass Mythen in einer Demokratie gesellschaftlich gewachsene, offene und integrierende Erzählungen sind, wie Kurator Daniel Kosthorst sagt. „Diktaturen hingegen versuchen, Mythen im Sinne der Staatsführung auch ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt zu formen und durchzusetzen“, wie der Historiker Hans Walter Hütter betont. Man denke hier nur an die Mauer, die Deutschland durchzog und in der DDR „antifaschistischer Schutzwall“ hieß.

All diese Mythen aus West und Ost werden mit 900 Exponaten illustriert, dazu gibt es zahllose Video- und Audio-Stationen, die das abstrakte Thema anschaulich und greifbar machen. Größtes Objekt der Schau ist ein cremefarbener VW Käfer von 1955, dem Jahr, als das einmillionste Fahrzeug des Typs vom Band lief. Der automobile Beleg für Ludwig Erhards Forderung, „Wohlstand für alle“ schaffen zu wollen. Der Trabant als DDR-Käfer hat es, was zu verschmerzen ist, nicht in die Schau geschafft. Wohl aber jenes dunkelblaue Trikot, das Jürgen Sparwasser trug, als er bei der Fußball-WM 1974 sein legendäres Tor erzielte, durch das die DDR im ersten und letzten Ost-West-Vergleich die BRD 1:0 besiegte. Zwar trägt das seltsam altertümliche Shirt keine drei Streifen, dennoch ließ man es, wie das Schildchen im Kragen beweist, in der Bundesrepublik fertigen: Erima nähte die Leibchen für die DDR-Elf.

Umweltschutz und Fußballnation

Mit der friedlichen Revolution in der DDR des Jahres 1989, die auch in Leipzig ihren Ausgang nahm, und der daraus resultierenden Wiedervereinigung im Oktober 1990 beginnt die gesamtdeutsche Mythenbildung. Was bedeutet, dass die Schau ab hier architektonisch zusammengeführt wird. Freilich stehen am Beginn dieser Abteilung drei Modelle für jenes Leipziger „Nationale Freiheits- und Einheitsdenkmal“, um das seit Langem gestritten wird – bisher freilich ergebnislos.

Stellvertretend für die Berliner Republik werden aktuelle Mythen wie Deutschland als „Vorbildlicher Europäer“, „Vorreiter im Umweltschutz“ und, natürlich, als „Siegreiche Fußballnation“ vorgestellt. Themen, die freilich auch erkennen lassen, dass hier bereits in starkem Maße die Wahrnehmung unserer europäischen Nachbarn mit einfließt, mit der sich die Mehrheit der Deutschen - da man sich durch diese Bezeichnungen ja geschmeichelt fühlen kann - natürlich gern identifiziert. (mz)

„Deutsche Mythen seit 1945“: Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Grimmaische Straße 6, bis 15. Januar 2017, Di-Fr 9-18 Uhr, Sa/So 10-18 Uhr.

Das Begleitbuch kostet 19,90 Euro.