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Wolfgang Mattheuer Wolfgang Mattheuer: Die Kraft des Phantastischen

Von Andreas Montag 06.04.2007, 17:22

Halle/MZ. - Ja, es scheint nachgerade, als würde der aus Reichenbach im Vogtland stammende Maler, Grafiker und Bildhauer, der am Samstag vor 80 Jahren zur Welt gekommen und an seinem 77. Geburtstag gestorben ist, völlig neu entdeckt.

Dabei ist der Moralist unter den Elite-Künstlern der DDR doch immer unübersehbar gewesen, an seinem irritierenden "Jahrhundertschritt", der auch im beschaulichen Hof der halleschen Moritzburg zu sehen ist, flanieren am Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzigs Innenstadt täglich Tausende Menschen vorbei.

Vielleicht begreift man aber auch erst jetzt, in einer Landschaft jenseits der Ideologien, welche ungeheuerliche Entlarvung diese 1984, noch in tiefster DDR also, entstandene Plastik eigentlich bedeutet. Da reißt den Jahrhundertmann sein Spagat zwischen Hitlerei und kommunistischer Linientreue fast in Stücke, die alltägliche Schizophrenie und das irrsinnige Pathos des "real existierenden Sozialismus" wird nüchtern vor Augen geführt und macht den Schmerz dieses vergangenen, opferreichen Jahrhunderts sinnlich erfahrbar. Für solche Wirkungen ist Mattheuer mit aller Kraft des Phantastischen immer gut gewesen, man wird sich der Bilder immer neu vergewissern wollen. Eines, das vergleichsweise bescheiden und aus heutiger Sicht vollkommen unspektakulär daherkommt, aber seinerzeit eine große, durchaus prinzipielle und anhaltende Wirkung gezeitigt hat, ist das 1970 entstandene Gemälde "Schwebendes Liebespaar". Eine größere Provokation war für die Bürokraten unter den Kunstverwaltern der DDR wohl gar nicht denkbar: Ein Paar, fest umschlungen und versunken in sich, hat den Boden der Tatsachen verlassen. Unfassbar! Ohne gefragt zu haben, schweben diese Leute einfach davon. Fort vom Kollektiv, hinweg von der Partei! Was sie dabei alles verpassen, diese Liebenden: Kein Gedanke an die Planerfüllung, kein Traum von der lichten Zukunft, nicht einmal ein "Neues Deutschland" haben sie dabei, um die goldenen Worte der SED mitzunehmen auf ihre Reise...

Man kann Mattheuers Gemälde getrost auch als ästhetischen Gegenentwurf zu Walter Womackas bodenständigem Sittenbild "Am Strand" aus dem Jahr 1962 begreifen. Da ist die Welt in Ordnung, das Paar ist sittsam gelagert und man meint zu hören, wie sie gleich über ihre Brigade zu sprechen beginnen werden. Dafür gab es Ehrungen, in unzähligen Amtsstuben, Wartezimmern und NVA-Kasernen hingen Reproduktionen, sogar auf eine DDR-Briefmarke haben es die beiden geschafft. Aber Mattheuers Paar ist es, das die Zeit überdauert.

Vieles aus Mattheuers Hinterlassenschaft wird noch zu besprechen, vor allem genau zu betrachten sein. Er, der skrupulöseste unter den Staatskünstlern der DDR, hat ein glaubwürdiges Zeugnis dieses Landes hinterlegt. "Meine Verantwortungswilligkeit und Verantwortungsfähigkeit haben ihre Grenzen erreicht", schrieb der Maler 1988, als er die SED verließ. Was von ihm bleiben wird, ist eben dieser moralische Rigorismus, den er in Grafiken und Gemälden über Jahrzehnte künstlerisch unter Beweis gestellt hat, herausragend darunter seine wiederkehrenden Variationen zu Kain und Abel. Und es werden die sächsischen Himmel über dem Leipziger Tiefland bleiben, die keiner so malte wie er. Man kann sie noch sehen.