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Wladimir Kaminer Wladimir Kaminer: Irrenhaus im Wasserglas

29.02.2012, 21:13

Halle (Saale)/MZ. - Liebesgrüße aus Deutschland" heißt das jüngste Buch aus der Feder Wladimir Kaminers. Und sicher wird die eine oder andere Geschichte daraus auch bei seiner Lesung am 15. März um 20 Uhr im halleschen Steintor-Varieté eine Rolle spielen. Vor allem aber will der Erfinder der "Russendisko" erklären, "Wo der russische Bär Fahrrad fährt". Allerdings könnte es beim Thema Bär gefährlich werden. Sylvia Pommert hat deshalb bei Wladimir Kaminer nachgefragt.

Ich hatte schon befürchtet, Sie würden nicht mit mir reden. Denn als Sachsen-Anhalter gehöre ich zu den Frühaufstehern. Frühaufsteher im russischen Sinne aber, das ließen Sie das Publikum bei Ihrer letzten Lesung im Steintor wissen, sind Bären, die zu früh aus dem Winterschlaf erwachen und mit den Menschen darüber reden wollen. Sie hatten überlegt, ob Sie bei der nächsten Reise nach Sachsen-Anhalt ein Gewehr im Kofferraum deponieren sollten. Bleiben Sie dabei?

Kaminer: Nein, diese Frühaufsteher brauchen vor mir keine Angst zu haben. Außerdem sind meine Lesungen ja eh immer abends. Ich glaube, dass die Frühaufsteher in Sachsen-Anhalt besonders aktive Menschen sind, die sich auch noch für Abendveranstaltungen interessieren. Hoffentlich schlafen sie nicht ein. Bären habe ich dort noch nicht gesehen. Ich bin übrigens kein Frühaufsteher.

Der Begriff Frühaufsteher ist allerdings auch hier nicht unumstritten. Er hat ja nicht nur positive Seiten ...

Kaminer: In der russischen Folklore hat das Aufstehen als Geste schon immer etwas Bedrohliches. So hat Hauptheld Ilja Muromez - der Batman sozusagen - 30 Jahre geschlafen. Nichts konnte ihn stören. Und als er dann doch aufstand, hat er sehr vielen bösen Menschen und auch sonst allen, die ihm so über den Weg liefen, der Ordnung halber den Garaus gemacht.

Lassen Sie uns das lieber nicht vertiefen und nach Deutschland zurückkehren. Hier haben Sie als Autor ein reiches Betätigungsfeld gefunden. In Ihren Geschichten schildern Sie viele kuriose Begebenheiten aus einer gewissen Draufsicht. Braucht man diesen Abstand?

Kaminer: Ich glaube schon. Er tut der Beobachtungsgabe gut. Und natürlich ist von außen auch mehr zu sehen als von innen. Nehmen Sie ein Wasserglas: Wenn man im Glas sitzt, hält man es oft für die ganze Welt. Wenn man aber von außen darauf schaut, dann merkt man, dass es nur ein Glas Wasser ist.

Ihre Art zu schreiben, erinnert mich an Eulenspiegel, der den Menschen den Spiegel vorhielt.

Kaminer: Das stimmt so nicht. Im Gegensatz zu Eulenspiegel versuche ich, zu verstehen. Und inzwischen kann ich für alles Mögliche Verständnis finden. Außerdem ist es in Deutschland viel leichter, verständnisvoll zu sein als in Russland. Weil die absolute Mehrheit der Menschen, die ich hier kennengelernt habe, das Positive will. Auch wenn sie nicht immer den richtigen Weg nehmen.

Aber wenn Sie immer mehr Verständnis haben, muss Ihnen

eines

Tages der Stoff ausgehen.

Kaminer: Ich denke nicht, dass die Kuriositäten abnehmen. Nur ein Beispiel: Ich lerne mit meinen Kindern gerade die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Nicole ist in der neunten, Sebastian in der siebten Klasse. Wir machen zusammen Hausaufgaben für den Ethikunterricht. Wir lernen jetzt also, wie die Gesellschaft atmet, wie sie tickt. Und ich sage Ihnen: Das ist sehr kurios. Allein über Ethik kann man Dutzende lustige Geschichten schreiben. Am Montag hatten wir eine schriftliche Arbeit, und ich habe eine Eins bekommen.

Sie? Wofür?

Kaminer: Wir haben eine Eins bekommen. Das Thema lautete: Wozu brauchen wir alte Menschen?

Und wozu brauchen wir sie?

Kaminer: Ja, ob sie die Gesellschaft braucht, ist fraglich. Aber die Familie braucht sie, die Kinder, die Enkel brauchen sie. Manchmal bringt mich dieser Ethikunterricht aber auch auf die Palme. Kürzlich hatten wir eine unglaubliche Hausaufgabe. Sie war - wie so oft - als Quizshow formuliert. Da hieß es: Stellen sie sich vor, sie gehen mit einem Freund in ein Geschäft und merken, dass er etwas geklaut hat. Was würden sie tun: a) den Freund decken, b) versuchen, ihm die Idee auszureden oder c) ihn verpfeifen? Ich sagte natürlich a) decken. Ich dachte, es geht um Freundschaft. Wozu hat man Freunde? Man muss doch zu ihnen stehen, auch wenn sie falsch handeln.

Und das war verkehrt

?

Kaminer: Für a) decken hätte mein Kind eine Sechs bekommen. Eine Eins gab es für c) verpfeifen. Mich hat fasziniert, wie man den Kindern erklärte, warum sie den Freund verpfeifen sollen. Man sagte, dass der Freund im Nachhinein dankbar sein würde, dass sie seine kriminelle Karriere im Keim erstickt haben. Ich sah sofort meinen Freund im Knast sitzen und Dankesbriefe schreiben: Ich danke dir, mein Freund, dass du mich damals verpfiffen hast. Sonst wäre mein Leben auf die falsche Bahn geraten.

Sie schöpfen Ihre Geschichten aus dem Alltag. Beschleicht Sie nicht manchmal das Gefühl, in einem Irrenhaus zu leben?

Kaminer: Klar, aber dieses Gefühl hatte ich schon immer, auch in der Sowjetunion. Wenn man den alten Schriften Glauben schenken darf, dann versuchen die Menschen, seit sie aus dem Paradies vertrieben worden sind, dieses Paradies wieder herzustellen. Aber das wahre Leben entspricht niemals diesen Vorstellungen. Und diese Kluft zwischen Traum und Wirklichkeiten sorgt für allerlei Kuriositäten und Geschichten - und für dieses Gefühl, in einem Irrenhaus zu sein. Ich finde aber, dass das der richtige Umgang mit dem Leben ist. Man muss versuchen, etwas daraus zu machen. Also, die Tatsache, dass wir alle sterben, ist schon schlimm genug. Noch schlimmer ist aber die Vorstellung, das Leben zu verpulvern, oder sich mit Nichtigkeiten aufzuhalten. Deshalb habe ich große Achtung vor Menschen, die etwas aus ihrem Leben machen oder die Welt neu erfinden.

Wenn man Ihre Geschichten liest, trifft man zunächst auf hintergründigen Humor und einen scharfen Blick. Beim genauen Hinsehen erkennt man den politisch engagierten Autoren.

Kaminer: Jeder kann selbst entscheiden, was er in meinen Geschichten sieht. Ob er sie zur oberflächlichen Belustigung liest oder nach einem tieferen Sinn sucht. Politik ist für mich in erster Linie nicht Parteipolitik, sondern vielmehr ein Versuch, das Zusammenleben zu organisieren. Das sollte die primäre Aufgabe jedes Staates sein. Sehr viele unterschiedliche Menschen brauchen einen Kommunikationsapparat, um miteinander klarzukommen. Darum sollte es eigentlich gehen und nicht darum, Parteiprogramme gegeneinander auszuspielen. Eine lange Zeit hat der Staat diese Aufgabe auch wahrgenommen. Heute erledigt sie das Internet fast schon besser.

Sie hatten im vergangenen Jahr angekündigt, für das Amt des Regierenden Bürgermeisters zu kandidieren. Haben Sie es getan?

Kaminer: Nein, so einfach geht das nicht. Ich hätte mich für eine politische Karriere entscheiden müssen. Doch ich wollte mit dieser provokanten Ankündigung nur ein bisschen das politische Leben aus dem Schlaf holen. Die Bürger selbst sind sehr engagiert. Ich kenne das aus meinem Bezirk, dem Prenzlauer Berg. Hier gibt es unzählige Bürgerinitiativen. Die große Politik kümmert sich mehr um die Wirkung Berlins nach außen, als um die Berliner selbst. Die Idee von der Kandidatur bekam viel Aufmerksamkeit - es war ein rundum gelungenes Projekt. Doch als Schriftsteller kann ich mehr erreichen.

Und als solcher schreiben Sie stets an mehreren Büchern zugleich. Wie viele sind es im Moment?

Kaminer: So zwei, drei. Zum einen beschreibe ich meine Weltreisen. Ich werde immer öfter ins Ausland eingeladen, um Werbung zu machen für deutsche Kultur und Sprache. Ich lerne die Welt kennen aus der Perspektive eines deutschen Schriftstellers. Zum anderen schreibe ich an einem Roman. Das ist für mich ein besonders wichtiges Projekt.

Worum geht es?

Kaminer: Ich will nicht zu viel verraten: Es geht um eine Reise durch die Berliner Nacht. Ich hole meinen Onkel, einen sehr alten Menschen, der noch nie im Ausland war, am Bahnhof ab, wo er mit dem Russenzug angekommen ist. Es ist gegen Mitternacht. Und dann laufen wir nach Hause und treffen sehr viele unterschiedliche Menschen. Es wird ein Buch, in dem die vertraute Welt meines Onkels in den Konturen des neuen Deutschlands aufgeht. Ein Deutschland, das im Grunde eine große Baustelle ist. Es wird ein tolles Buch.

Zweifellos. Sie schreiben in Deutsch. In welcher Sprache gehen Ihnen die Geschichten durch den Kopf?

Kaminer: In beiden. Wenn ich eine Idee auf Russisch im Kopf habe, frage ich mich als erstes: Wie könnte das auf Deutsch klingen? Es ist noch immer nicht einfach für mich, die richtigen Wörter zu finden. Ich glaube, wenn man in einer Fremdsprache schreibt, hat man viel mehr Respekt vor ihr. Man denkt über jedes Wort mehrmals nach. Auf Russisch hätte ich wahrscheinlich viel lascher geschrieben.