Wilhelm Bartsch Wilhelm Bartsch: Ein mitteldeutscher Pfadfinder
Halle/MZ. - Wo liegt Halle? Beim nördlichen Rand des ostafrikanischen Grabens? Am Ende von Napoleons Lebenslauf? Oder doch eher auf halber Strecke zwischen Thule und Theben? Wenn man dem Dichter Wilhelm Bartsch glauben darf, ist die Stadt jedenfalls am Wegesrand zu suchen - dort, wo sich die Geschichten finden, die er den Gästen von "Theater der Welt" in diesem Sommer erzählen will.
Im Rahmen des Festival-Pakets "Wi(e)der-Hall" wird Bartsch mit dem belgischen Regisseur Jos Houben und mit dem Ensemble der Kulturinsel seine "Hallesche Störung" präsentieren - geführte Rundgänge zwischen der Burg Giebichenstein und der Halloren-Schokoladenfabrik, zwischen der zeitlos schönen Neuen Residenz und der vorfristig gealterten Neustadt. Dass die Straßen und Plätze bei dem 57-Jährigen in besten Händen sind, zeigt ein Blick in seine Klause: Napoleonische Zinn-Dragoner paradieren hier vor puppengroßen Wunderkammer-Schränkchen, gestopfte Pfeifen warten auf ihren Raucher und die Bücherstapel versiegeln blickdicht die Wände. Ein Ort, um die Gedanken auf Reisen zu schicken - Komm! Ins Offene!
Also nimmt Bartsch, der im vergangenen Jahr den längst verdienten Wilhelm-Müller-Preis des Landes Sachsen-Anhalt verliehen bekam, die Anekdoten und Marginalien der Lokalgeschichte in den Blick: Napoleons Einzug in Halle, den ein Student 1806 für ein Attentat nutzen wollte. Reichardts Romantiker-Garten, der an die Kinderstube des legendären Kampffliegers Oswald Boelcke grenzte. Oder die Pappelallee in Halles Osten, die sich für die Verfilmung Christa Wolfs "Der geteilte Himmel" einst bis zum Ammendorfer Waggonbau krümmte.
Von solcher Art sind die Geschichten, die Wilhelm Bartsch im kurzgeschorenen Schädel ausbrütet - und denen Jos Houben Körper geben soll. Die Landeskunststiftung hat zwei Drittel der beantragten Fördersumme bewilligt, damit sich die Festival-Besucher vom 19. Juni bis zum 6. Juli verführen lassen können. Von zwölf Routen sind nach der Auslese mit dem Mut zur Lücke sieben geblieben - ein Katalog der halleschen Weltwunder.
Dass Wilhelm Bartsch also ein Kosmopolit mit Lokalkolorit ist, kommt ihm zunehmend zugute. Gerade hat er - als einziger Lyriker überhaupt - ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds zugesprochen bekommen, mit dem er einen
"dicken, fetten" Gedichtband in Angriff nimmt. Und weil das kleine Polster das Rückgrat stärkt, denkt der Dichter radikaler: Statt des Panoramas nimmt er sein Zentrum in den Blick, Mitteldeutschland soll den Versen fruchtbarer Boden sein.
Daher beschwört der Arbeitstitel "Wolfgangsee" auch nicht die Operettenseligkeit des Weißen Rössls, sondern die Tagebau-Restlöcher und den Dichter Wolfgang Hilbig - poetische Druckpunkte also, wie sie Bartsch auch mit einem großen Prosaprojekt stimulieren will. Der allgegenwärtigen Auf- und Abarbeitungsliteratur der westdeutschen 68er will er die Erinnerungen aus seiner Geburtsstadt Eberswalde entgegenhalten - ein Roman, der "durch die DDR wächst" und auch von einer sexuellen Befreiung erzählt, die viel radikaler als das Pendant hinter der Mauer gewesen sei. Was von dort bislang erzählt wurde, sei doch "der Schaum des Schaumes - nicht die Welle", sagt Bartsch. Und sein dicker Schnauzbart wippt in Vorfreude auf die Entrüstung, die solche Sätze auslösen.
Und dann ist da ja noch Meckel, Johann Friedrich, der Anatom. Aus dem Regal angelt Wilhelm Bartsch Notizen, die mit ihrer akribischen Schrift sowie sauber eingeklebten Skizzen und Fotografien selbst schon bibliophile Schätze sind. Der berühmte Forscher vom Anfang des 19. Jahrhunderts, der über Missbildungen des Herzens promovierte und seinen Vater auf dessen ausdrücklichen Wunsch zu Forschungszwecken skelettierte, ist Bartschs Leib- und Magenthema.
Seit Jahren folgt er den Spuren des Hallensers, der im "Riesenhaus" am Großen Berlin lebte und mit der schönsten Frau der Stadt verheiratet war. Dass man Meckels Geist auch beim "Theater der Welt" treffen wird, versteht sich daher von selbst - ebenso wie die fortdauernde Arbeit an dem "Opus Magnum", die nicht zuletzt im Wegschneiden des Überflüssigen der Anatomen-Tätigkeit gleicht. "Wenn ich das heute noch mal anfangen müsste, würde ich es wohl lassen", stöhnt Wilhelm Bartsch. Wie gut, dass es dafür längst zu spät ist.